: Neue Normalität in den Zelten
Acht Wochen nach dem schweren Erdbeben in der Türkei leben die Betroffenen im Provisorium. Sie glauben nicht daran, dass sich vor dem Winter etwas ändert ■ Aus Yalova Jürgen Gottschlich
Kadir ist ein guter Handwerker. Er hat mit großer Sorgfalt gearbeitet. Wo andere sich mit einem Zelt oder einem schiefen Bretterverschlag zufriedengeben, hat Kadir ein kleines Pfahlhaus gebaut. Ungefähr einen Meter über der Erde, mit einer Grundfläche von 2 mal 2,5 Metern, knapp 1,5 Meter hoch, erinnert es an eine überdimensionale Puppenstube, die ein Vater an langen Feierabenden für seine Töchter baut.
Das Häuschen hat eine Türklappe und ein Fenster, aufs Dach hat Kadir sogar eine Art Dachpappe genagelt. Unter das Häuschen hat Kadir Kalk gestreut, damit kein Ungeziefer in die gute Stube kommt. Denn darum handelt es sich. Die Puppenstube ist das neue Zuhause der Familie Özkök – Kadir, seine Frau und zwei Töchter.
Das Häuschen steht auf einer Freifläche, nur wenige Schritte von der eigentlichen Behausung der Familie entfernt. Auf den ersten Blick scheint das geräumige Einfamilienhaus der Özköks völlig o.k. Doch Kadir weiß genau, wo die Risse sind. Schon aus der Entfernung deutet er auf verschiedene Stellen unter dem Dach, im Innern des Hauses sind die Risse leicht auszumachen.
„Wir wissen nicht genau, wie gefährlich es ist, sich im Haus aufzuhalten. Aber solange die Erde immer wieder bebt, benutzen wir nur das Bad und ab und zu die Küche“, erzählt Kadir. Acht Wochen nach dem großen Beben in der Westtürkei spielt sich bei Familie Özkök fast alles auf der Straße ab. Neben das Puppenhaus hat Kadir ein Podest gebaut, auf dem der Fernseher steht, ein Tisch und ein paar Stühle müssen das Wohnzimmer ersetzen.
Bis jetzt hat Kadir noch nicht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Er war vollkommen damit beschäftigt, das Provisorium zu perfektionieren. „Ein Ingenieur war da und hat sich unser Haus angeschaut. Vielleicht kann es noch repariert werden.“ Doch wann und wie, ist völlig unklar. Kadir geht davon aus, dass die Familie die nächsten Monate erst einmal in ihrem Pfahlhäuschen verbringen wird. Und im Winter? „Ja, was sollen wir machen?“ Kadir lächelt etwas gequält. „Vielleicht trauen wir uns bis dahin wieder in unser Haus.“
Wie Kadir geht es ungefähr einem Drittel der rund 60.000 Einwohner Yalovas. Ihre Häuser sind beschädigt, aber nicht völlig zusammengebrochen. Die Menschen trauen sich nur noch sporadisch hinein, aber trennen will man sich von seinem Heim dennoch nicht. Deshalb stehen neben allen diesen Häusern nun Zelte oder aus Brettern und Plastikplanen zusammengebastelte Behelfsunterkünfte, in denen die Leute schlafen und essen. Wie die Familie Özkök benutzen die meisten zumindest noch ihr Bad und eventuell die Küche.
Das auch dies nicht ungefährlich ist, haben schwere Nachbeben gezeigt. Etliche Bewohner von Yalova, Gölcük oder Izmit wurden in ihren beschädigten Häusern von einem Beben überrascht, zehn Leute starben vor drei Wochen, als diese Todesfallen bei einem Nachbeben in Stärke 5 auf der Richterskala endgültig zusamenbrachen. In der Nacht zum Dienstag traf es den Badeort Marmaris, 67 Menschen wurden verletzt.
Auch Fahti hat Angst vor den Nachbeben. Seine Familie ist deshalb ganz in eines der Zelte gezogen, die der Türkische Halbmond (das Pendant zum Roten Kreuz) an der Promenade in Yalova aufgebaut hat. Doch Fahti selbst kommt jeden Tag zurück. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er mit seiner Familie wohnte, hatte er seine Teestube. Fahti hat sie wieder eröffnet. Provisorisch zwar, es gibt nur ein paar Schemel, und der Schutt liegt noch in der Ecke, aber einige Gäste sind dennoch da. Die Teestube liegt in einer Seitengasse direkt an der Hauptgeschäftsstraße. Während in der Hauptstraße alle Häuser unbeschädigt blieben, das Leben scheinbar seinen ganz normalen Gang geht, ist die Seitengasse komplett kollabiert. Auf der rechten Straßenseite sind mehrere Häuser zusammengestürzt, links stehen sie noch, sind aber unbewohnbar. In der Teestube hat die Rückwand ein großes Loch. Die Gäste sind alles Nachbarn aus der Straße. Einer hat gerade einen kleinen Lkw mit Hausrat beladen, den er, zusammen mit einem anderen Nachbarn, aus seinem schwer beschädigten Haus geholt hat. Alle wissen, wie gefährlich es ist, die Häuser noch einmal zu betreten. Doch was soll man machen? „Wir brauchen Kleidung, ein paar Decken, Papiere, den Fernseher, wenn's geht noch einen Schrank.“
Mit den geretteten Möbeln wird das Provisorium erträglicher gestaltet. In der Zeltstadt entlang der Promenade in Yalova werden jeden Tag mehr Satellitenschüsseln an den Zeltgiebeln befestigt und nebenan kleine Küchen aufgebaut. Obwohl die Stadtverwaltung von Yalova noch jeden Mittag mit einem Lkw Essen in großen Kübeln anfährt, gehen einzelne Familien bereits wieder daran, sich selbst zu versorgen.
Yalova ist dabei, sich in einer neuen Normalität einzurichten. Weder Kadir noch Fahti oder die anderen Familien, die in den Zelten entlang der Promenade leben, glauben, dass vor Beginn des Winters noch etwas für ihre Unterbringung passiert. „Bei mir hat sich von der Regierung immer noch niemand sehen lassen“, beklagt Fathi die Situation, „die werden wohl auch nicht mehr kommen.“ In Yalova gibt es bislang keine Wohncontainer, und es werden vor dem Winter wohl auch keine mehr kommen.
Wer woanders unterkommen konnte, bei Verwandten in Istanbul oder auch im Dorf, aus dem die Familie vielleicht vor zehn oder fünfzehn Jahren nach Yalova ausgewandert war, ist erst einmal weggegangen. Yalova, Degirmendere, Halidere und Gölcük – alle Orte an der Südküste des Marmarameeres haben dadurch, dass viele Istanbuler nur den Sommer über hier leben, im Winter deutlich weniger Einwohner. Nach dem Beben ist jeder verschwunden, der die Möglichkeit dazu hatte. Die, die das ganze Jahr über hier leben, die, die bleiben mussten, richten sich nun inmitten der Katastrophe ein.
Der Wunsch, dem Chaos zu entfliehen, treibt zuweilen skurrile Blüten. Ein Mann, dessen Familie jetzt in einem Zelt auf einem Trümmergrundstück inmitten einer völlig zerstörten Häuserzeile lebt, ist dabei, für eine kleine Treppe, insgesamt drei Stufen, die zu dem Zelt führen, einen Handlauf zu basteln – ein anderer, der das Glück hatte, dass sein Häuschen der Zerstörung ringsherum trotzte, ist dabei, die Risse im Bürgersteig vor seinem Haus zu verspachteln, obwohl fünf Meter weiter alles in Schutt und Asche liegt.
Die meisten, die das Beben scheinbar heil überstanden haben, tragen psychische Verletzungen davon. Am zehnten September fingen in der Türkei offiziell die Schulen wieder an. „Meine Kinder“, sagt Fahti finster, „werden erst einmal nicht mehr in die Schule gehen. Sie haben zu viel Angst in geschlossenen Räumen.“
Das größte Problem in den kommenden Monaten werden die provisorischen Zeltstädte. Während in Halidere und Degiermendere, den am schlimmsten zerstörten Orten entlang der Marmaraküste, mit einer Verzögerung von zwei bis drei Wochen die Armee, zum Teil mit Unterstützung der US-Navy, begonnen hat, regelrechte Zeltstädte zu errichten, dominiert in Yalova ein buntes Durcheinander abenteuerlicher Konstruktionen. Die Zelte des türkischen Roten Halbmonds ähneln den Indianertipis aus Wildwestfilmen – rund, ohne Boden und oft noch mit einem Rauchabzug, durch den es ordentlich hineinregnet. Dazwischen immer wieder Zelte der Schwesterorganisation aus Kuwait – echte Wüstenzelte, die dem im Winter bevorstehenden Dauerregen vielleicht einen Tag standhalten.
Die Regierung hat angekündigt, als Sofortmaßnahme neue Zelte in Skandinavien zu kaufen, um sie gegen die Antiquitäten des türkischen Halbmonds auszutauschen. Eine gute Idee, von deren Realisierung allerdings noch nichts in Sicht ist. Im Gegensatz zu den versprochenen skandinavischen Thermozelten sind die amerikanischen Zelthäuser bereits da. Die türkischen Presse hat es sich in den ersten Tagen nach der Ankunft der Marines nicht nehmen lassen, einen optischen Vergleich zu den türkischen Tipis anzubieten. Tatsächlich erinnert das Nebeneinander an Villa und Hundehütte. Wer in einem der US-Zelte untergebracht wurde, kann wenigstens im Trockenen sitzen.
Die neue Normalität in den zerstörten Städten am südlichen Marmarameer beinhaltet ein ganz neues Nebeneinander der vom Beben in unterschiedlichem Maße betroffenen Menschen. Die Provinz Yalova ist der Obst- und Gemüsegarten Istanbuls. Von hier aus wird der größte Teil des frischen Gemüses in die Metropole auf der gegenüberliegenden Seite des Binnenmeeres geschafft, Yalova ist der Hauptumschlagplatz für die Großhändler der gesamten Region.
Der Stolz der Stadt ist ein erst vor wenigen Jahren neu gebauter, riesiger überdachter Markt, auf dem jeden Morgen der größte Teil der Tomaten, Melonen, Gurken und Zwiebeln verkauft wird, die wenige Stunden später die Gemüseläden Istanbuls füllen. Seit dem Beben ist der Markt zur Hälfte von Familien in Beschlag genommen worden, die sonst kein Dach über dem Kopf mehr haben. Aber weil das Leben eben weitergehen muss, wird direkt neben der Notunterkunft ein Berg Melonen aufgeschüttet und im Laufe des Vormittags verkauft. Damit Geschäfte auch in größerem Umfang weiterhin schnell abgewickelt werden können, hat die Eti-Bank an strategisch günstiger Stelle zwischen Markt und Zeltlager-Promenade einen Caravan aufgebaut, der mit Hilfe eines Generators und einer großen Satellitenschüssel auch Online-Handel möglich macht.
Das ungewohnte Nebeneinander zeigt sich nicht nur auf dem Markt, sondern auch im Hafen.Wo sonst die Schnellfähren in den asiatischen Teil Istanbuls abgingen, liegen jetzt drei türkische Passagierdampfer, die in den kommenden Monaten wohl nicht mehr losmachen werden. In den Kabinen sind obdachlose Erdbebenopfer untergebracht, Menschen, für die es so bald keine Alternative geben wird.
Anders als in Yalova, wo das Nebeneinander von Obdachlosen und noch einmal Davongekommenen das Bild bestimmt, sind die Küstenorte in Richtung Izmit, vor allem Halidere und Degirmendere, aber auch große Teile von Gölcük, zu Geisterstädten geworden. Das Leben hat sich, aus den zerstörten Orten heraus, in die Obstplantagen an den Berghängen verlagert. Hier sind große Zeltstädte entstanden, um die herum nun langsam eine minimale Infrastruktur entsteht. Örtliche Verwaltungen, private Initiativen und zuletzt auch die Armee haben Hand in Hand Sanitäranlagen gebaut, Lebensmittellager eingerichtet und Großküchen errichtet, in denen hunderte Obdachlose versorgt werden. Normales Leben gibt es praktisch nicht mehr. Die Orte sind so zerstört, dass jetzt erst einmal Planierraupe und Abrissbagger beenden, was das Beben noch übrig gelassen hatte. In Degirmendere hat sich das Meer den Teil der Stadt zurückgeholt, der in den Jahren zuvor als Promenade aufgeschüttet worden war und wo vermeintlich clevere Geschäftsleute ihre Strandhotels gebaut hatten. Die liegen nun unter Wasser und sind zu einer schaurigen Attraktion geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen