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Mit Engelsgeduld

■ Hernán Rivera Letelier schreibt einen großen „Lobgesang auf eine Hure“ in Chile

Es vergeht kein Tag, an dem nicht über irgendeinen urbanen Red-light district berichtet wird. Wie sieht es nun aber mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Prostituierten in der Pampa aus, genauer: in den nordchilenischen Salpeterstädten? Dort teilt sich die Nutte ein Zimmer mit einem der unverheirateten Salpeterarbeiter. Er darf dafür gelegentlich mit ihr ficken. An Zahltagen, wenn sich eine Schlange vor dem Zimmer bildet, schläft er woanders. Ähnlich wie während der Streiks der Tagesspiegel-Drucker, denen die Prostituierten in der Potsdamer Straße einen Preisnachlass gewährten, können auch die Salpeterarbeiter im Arbeitskampf bei den Pampamädchen anschreiben.

Der Autor kennt sich da aus: 43 Jahre verbrachte Hernán Rivera Letelier in der Atacama-Wüste, wo er „den Niedergang der chilenischen Salpeterindustrie am eigenen Leib erlebte“. Sein „Lobgesang“ umspannt die Zeit vom plötzlichen Tod der Hure Reina Isabel bis zu ihrer Beerdigung, die mit der Abwicklung einer der letzten 200 Salpeterstädte einherging. Es kommen darin nur eine Hand voll Huren und ihre Freier vor: Veteranen der chilenischen Arbeiterbewegung, inklusive eines alten Dichters, in dessen Zimmer ab und zu „Orgien“ stattfinden. Letelier lässt ihn sagen: „Die Hauptzeugen der Leidensgeschichte und des Todes der letzten Bastion eines beispiellosen Epos der Menschheitsgeschichte zu sein, das war keine Lapalie. Himmel, Arsch und Zwirn ...“ Komisch, auch das Poem „Mandakini Patil“ des indischen Dichters und Arbeiterführers aus der Kaste der Unberührbaren, Namdeo Dhsasal, handelt von einer Prostituierten. Und in unserem Ostberliner Betriebsräteinfo Ostwind, das einige Male als taz-Beilage erschien, annoncierten sogar welche. Seitdem frage ich mich: Was ist so interessant an ihnen? Wladimir Kaminer meint: „Das ist noch unklar!“

Leteliers sentimentaler „Lobgesang auf eine Hure“ hilft ein Stück weiter. Ich wünschte, die Diplomprostituierte Alice Frohnert würde ihn rezensieren. Leider geht sie jetzt in Luxemburg anschaffen und ist schwer zu erreichen. Außerdem kann ich das Zeilengeld selbst gut gebrauchen. Der preisgekrönte Chilene erzählt Männergeschichten. Die blasse Hure La Garuma fing ständig Fliegen – mit der Hand, selbst beim Ficken. Die älteste Hure Reina Isabel – liebte ihre staublungenkranken Stammkunden unentgeltlich und niemals lustlos. Außerdem holte sie regelmäßig dem Onanisten Caballo de los Indios einen runter, wobei sie „La mar estaba serena, serena esteba la mar“ sang.

Die streitsüchtige Cama de Piedra hatte dagegen nur ein Interesse: Comics lesen: „Sie las sie auch während der Arbeit hinter dem Nacken ihrer Kunden.“ Wenn sie splitternackt auf ihrer mit einem Drachen bedruckten Decke lag und las, sah sie sehr schön aus. Auch Chamullo, die selbst dem hässlichsten Verlierer das Gefühl vermittelte, ein toller Hecht zu sein, las gerne. Am liebsten Bücher über Sexualität: „Sie war die einzige, die imstande war, länger als fünf Minuten über Sex zu reden, ohne vulgär zu werden.“

Die dicke Ambulancia hatte einen Flaschenzug am Bett, mit dessen Hilfe sie ihre unglaublichen Beine breit machte. Die „Männer der Pampa“ ließen sich in zwei Arten einteilen: die Kühnen, die sich einmal getraut haben, ihre Dienste zu genießen, und die anderen. Aber auch sie musste einmal passen: als sie Burro Chato ranließ, der alle Wettbewerbe um den größten Schwanz gewann – Ambulancia war er zu groß. Ferner die schroffe Poto Malo. Und die rechenschwache Dos Punto Cuatro ... Das muss reichen. Eben rief der Literaturredakteur an und sagte, er hätte nur noch 120 Zeilen für die chilenischen Huren.

Helmut Höge

Hernán Rivera Letelier: „Lobgesang auf eine Hure“. Übersetzt von Catalina Rojas Hauser. Krüger 1999. 282 Seiten. 39,80 DM

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