: Wenn Briefmarken erzählen
■ Vom Verschwinden vieler Länder und ihrer Geschichte – ein Buch nicht nur für Philatelisten: Burkhard Müller illustriert Weltgeschichte mit „gezahnten Zetteln“
Wie groß muss ein Land sein, um eigene Postwertzeichen zu besitzen? Nicht allzu groß. Lundy hat es bewiesen. Das Minifleckchen im Atlantik vor der Küste Cornwalls, 32 Bewohner inklusive aller Leuchtturmbeschäftigten, ist bei 4,22 Quadratkilometer wohl die kleinste territoriale Einheit mit briefmarken-editorischer Hoheit. Die Briefmarke von 1954 feierte den 1.000. Jahrestag der Niederlage des Wikingerkönigs Eric Bloodaxe und kostete „by air 3 Puffin“. Das englische Wort Puffin bedeutet Papageientaucher.
Lundy ist einer der untergegangenen Staaten, Kolonien, Besatzungsgebiete, Provinzen, König- und Kaiserreiche, geografischen Klein- oder Großgebilde, die Burkhard Müller in seinem Buch „Verschollene Länder“ vorstellt. Und zwar an Hand ihrer Postwertzeichen, wie der Untertitel „Eine Weltgeschichte in Briefmarken“ nahelegt. Doch Müllers unkonventionelle Briefmarkensammlung bietet weit mehr als der Michel-Katalog, die dröge Bibel der Philatelisten: In 40 kurzweiligen Kapiteln, nie länger als drei Seiten, porträtiert der Uni-Dozent der TU Chemnitz-Zwickau Länder, deren Eigenstaatlichkeit längst vergangen ist: uns bekannte wie die Sowjetunion, weniger bekannte wie Obervolta und sicher unbekannte wie Ryu-Kyuoder Sowjetbayern.
Länder kommen und gehen, aber ihre hoheitlichen „kleinen gezahnten Zettel“ verbleiben als „leibhaftige Bilder“. 193 souveräne Staaten gab es 1998. Über kurz oder lang wird der eine oder andere von ihnen wieder von der politisch-geografischen Landkarte verschwinden. Dass es „nichts Fragileres gibt als Grenzen“, wie der Autor im Vorwort feststellt, zeige sich schon daran, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts „weit mehr Länder untergegangen sind, als sich haben erhalten können – drei Mal, vielleicht sogar fünf Mal so viele“.
Die 15-Kopeken-Briefmarke von Tannu Tuva erzählt über das Schicksal des kurzlebigen Staates „im Pufferraum zwischen dem chinesischen und russischen Reich“ – halb so groß wie Deutschland mit weniger als 100.000 Einwohnern. Und wer hat schon von den freien Sitten auf den „Sandwich-Inseln“ gehört, wie das Königreich Hawai noch hieß, als Adalbert von Chamisso auf seiner Weltreise 1817 dort Station machte? Chamisso verwirrte die anmachende Art der Weiber, „die allgemeine, zudringliche, gewinnsüchtige Zuvorkommenheit des anderen Geschlechts“.
Das so hintergründig wie vergnüglich geschriebene und geschmackvoll edierte Bändchen ist gleichermaßen eine Quelle der Inspiration für Briefmarkenfreunde, an Geschichte und Geografie Interessierte wie auch für Lehnstuhlreisende. Günter Ermlich
Burkhard Müller: „Verschollene Länder. Eine Weltgeschichte in Briefmarken“. Verlag zu Klampen, Lüneburg 1998, 113 Seiten, 36 Mark.
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