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Weltoffene Art

■  Sprachlose Verständigung: Die Kreuzberger Ärztin Rita Kielhorn wurde für ihr „unermüdliches Engagement“ ausgezeichnet

Man muss die Menschen lieben, um sie zu verstehen. Sonst ist man auf verlorenem Posten

Wenn man in Rita Kielhorns Praxis aus dem Fenster guckt, hat man einen freien Blick auf den Kreuzberger Mariannenplatz. Vor dem Fenster steht der Apotheker auf der Straße und plaudert mit einem türkischen Ehepaar: „Na, Sie haben ja die ganze Sonne aus der Türkei mitgebracht“, grinst er. Die beiden strahlen. Auch Rita Kielhorn hat jede Menge Patienten, die gerade aus dem Urlaub in der Heimat zurückgekehrt sind; darunter allerdings auch solche, die nach ihrer Rückkehr völlig unter Schock standen. Fast täglich kommen Menschen zu ihr, die entweder selber Opfer des verheerenden Erdbebens in der Türkei geworden sind oder zumindest Angehörige dort haben. „Wenn so etwas passiert“, sinniert Kielhorn, „dann sind Sie nicht nur Ärztin, sondern auch Priester, Psychotherapeut und Sozialarbeiter zugleich.“

Am 9. Juli wurde die Kreuzberger Ärztin für ihre jahrelangen Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Als Berlins Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) Rita Kielhorn das Verdienstkreuz überreichte, würdigte sie in ihrer Laudatio vor allem deren „Verdienste für das Gemeinwohl“ sowie ihr „unermüdliches Engagement“ – aber auch den Standort ihres Wirkens: „Ich weiß nicht, was Sie damals bewogen hat, diesen Bezirk zu wählen“, hieß es, „aber intuitiv betrachtet passt genau diese Standortwahl wunderbar zu Ihrer weltoffenen, basisnahen Art.“

Dabei war Berlin-Kreuzberg noch längst nicht so weltoffen und multikulturell wie heute, als Rita Kielhorn sich Ende der 60er-Jahre entschloss, hier ihre Praxis zu eröffnen: Damals hatte der massenhafte Zuzug von Gastarbeitern noch gar nicht eingesetzt; Kreuzberg war ein rein deutsches Armenhaus. Wer es sich leisten konnte, zog weg; immer mehr Häuser standen leer, wirtschaftlicher Aufschwung war nicht in Sicht.

Anfang der 70er-Jahre zogen wieder Menschen in die oft abbruchreifen Häuser: angeworbene Arbeitnehmer aus der Türkei. Für Rita Kielhorn begann ein neues Leben: „Morgens standen die Leute in Dreier-Reihen vor der Praxis“, erinnert sie sich, „zum Teil trugen sie unter ihren Hosen und Hemden noch ihre Nachthemden, andere kamen mit Pantoffeln, hatten ihre Haare und Hände mit Henna gefärbt. Sie standen einfach da und warteten darauf, dass ich komme. Termine zu vereinbaren war überhaupt nicht möglich.“

Nicht nur, aber überwiegend behandelte Kielhorn fortan die erste Generation der zugewanderten Arbeitnehmer, die häufig die deutsche Sprache nicht sprachen, oft noch nicht einmal lesen und schreiben konnten. Unter ihnen traf sie in ihrer Praxis immer wieder Menschen, die organisch völlig gesund waren und dennoch fürchterlich litten und nicht sagen konnten, worunter. Und sie behandelte Beschwerden, die durch viel zu schwere körperliche Arbeit hervorgerufen worden waren. Sie lernte, sich mit Händen und Füßen zu verständigen – und ganz genau hinzugucken. „Das Verständnis hängt nicht nur von der Sprache ab“, sagt Rita Kielhorn heute, „sondern von der Fähigkeit, sich einzufühlen. Man muss die Menschen lieben, um sie zu verstehen. Sonst ist man auf verlorenem Posten.“

Es war wohl auch ihre Klientel, die die Ärztin dazu brachte, sich seit den 70er-Jahren immer stärker mit Psychosomatik und Psychotherapie zu beschäftigen. Hätte sie sich damals in einem mittelständischen Bezirk niedergelassen, wie es ihr angeboten worden war, glaubt sie heute, wäre auch ihre Sozialisation anders verlaufen. „Dort wissen die Menschen viel besser, sich selber zu helfen“, sagt sie, „mit vielen Dingen geht man dort gar nicht zum Arzt.“ Gerade ihre Kreuzberger Patienten hätten ihr auch zu einem neuen Berufsverständnis verholfen. „ Hier habe ich gelernt, dass ein Mensch nicht die Summe seiner Organe ist, sondern ganzheitlich betrachtet werden muss.“

Und tatsächlich: Wenn Rita Kielhorn, die auf den ersten Blick eher distanziert wirkt, voller Empathie schildert, wie sie mit ihren Patienten umgeht, wird einem warm: Von Frauen, die völlig verstört von einer Krebsvorsorge bei ihrem Gynäkologen kommen und, weil sie es nicht besser verstanden haben, voller Angst, todkrank zu sein. Von Männern mit Herzschmerzen, die von einem schlechten Gewissen herrühren, weil sie erstmals Alkohol angerührt und somit gegen die islamische Abstinenzvorschrift verstoßen haben.

Gerade in letzter Zeit muss die agile Ärztin ihre Praxis allerdings immer öfter für halbe oder ganze Tage allein lassen. Als stellvertretende Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin führt sie ein zweites Leben in Sachen Gesundheitsreform. Fast die Hälfte ihrer persönlichen Zeit, erzählt sie, nimmt die KV-Arbeit zurzeit in Anspruch.

Man mag sich wundern, woher sie die Kraft nimmt, so viele aufreibende Dinge auf einmal miteinander zu vereinbaren. Darauf angesprochen, antwortet sie lakonisch: „Wenn ich das nicht gerne machen würde, würde ich es nicht tun.“ Jeannette Goddar

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