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Tagebuch einer anderen Öffentlichkeit

Duzen als Protestform: Beim Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm gab es allerhand Beiträge über die Macken, Privatmythologien und kleinen Fluchten, mit denen der schutzlos entfremdete Einzelne über die Runden kommt  ■   Von Detlef Kuhlbrodt

In der schwarzen „arte“-Jutetüte war neben dem Katalog mit den 390 Dokumentar- und Animationsfilmen auch ein Flachmann mit „Leipziger Pleißewasser“. „Klarer sehen, was wirklich los ist“ stand auf der Rückseite der kleinen Flasche, um das progressiv-objektivistische Festivalmotto – „Sehen, was wirklich los ist“ – ein bisschen zu präzisieren.

Was wirklich los ist, meint die Schamteile der Gesellschaft sozusagen, das, wo man sonst immer aus bequemlicher Unachtsamkeit wegzugucken sich angewöhnt hatte: die Situation belgischer Arbeitsloser etwa in André Dartevelles „Wir sind Arbeitslose, keine Hunde“, denen die Behörden hinterherspionieren, um herauszufinden, ob sie nun tatsächlich Anspruch auf Haushaltsvorstandsbezüge haben; das Porträt eines Slums in einer runtergekommenen belgischen Bergbaugegend, die aussieht wie Rumänien („die Kinder der Borinage“ von Patric Jean); die einfühlsam erzählte Lebensgeschichte einer unglaublich gebückten armen, alten, zarten Frau, die, ihren alten Handwagen hinter sich herziehend, durch Moskau wandert. In ihrem Leben, das sie mit einer sehr schönen, fragilen Stimme erzählt, spiegeln sich die russischen Katastrophen dieses Jahrhunderts, ohne dass ihr Schicksal in der gesellschaftlichen Metapher verschwinden würde. „Allein“ von Dmitri Kabakow wurde auf dem Leipziger Dokumentarfilmfest mit einer Goldenen Taube für den besten kürzeren Dokfilm ausgezeichnet.

Viele Filme beschäftigten sich mit dem Krieg – in Tschetschenien oder im Kosovo. Die grausamen Bilder Verstümmelter können nie etwas anderes sagen, als dass das Menschenschlachten sinnlos und furchtbar ist. Bei den Dreharbeiten für seinen Film „Verflucht und vergessen“ verlor der Regisseur Sergej Goworuchin ein Bein. Dass er gegen die Kriegsbilder Bilder „sittenloser“ Reicher geschnitten hat, die sich im Moskauer Nachtleben amüsieren, also einen westlich-dekadenten Konsensfeind bemühte, wirkte ein bisschen, als hätte er Angst, das verantwortliche Establishment anzuklagen; andererseits wirkte es wie eine Bestätigung der Abwehr, des Nicht-wissen-Wollens, gegen das sich der Film wandte, wenn einige bei der Diskussion zunächst auch pathetisch versicherten, sie hätten die Kriegsbilder großartig gefunden, um dann die angebliche Aussage des Films vehement zu kritisieren.

Viele Filmemacher widersprachen dem alten Anspruch auf eine objektiv vermittel- und veränderbare Wirklichkeit, mit Tagebuchfilmen zum Beispiel. Jan Peters in seinem Film „Dezember, 1–31“, der Russe Witali Manski mit seiner Kompilation von Amateuraufnahmen, „Private Chroniken. Monolog“ (er bekam dafür den „Don-Quixote-Preis“), „Pfadfinder“ von Georg Maas und andere.

Gegen die erdrückende Macht der Objektivität beharren die kleinen Helden dieser Filme auf ihren subjektiven Wahrnehmungen: Jan Peters spricht in 31 dreiminütigen S-8-Rollen immer hastig über das, was er grade erlebt oder geträumt hat. Es geht um „Grobi“, einen verstorbenen Freund, dem der Film gewidmet ist. Wenn Peters irgendwann anfängt, so liedermachermäßig zu singen, ist das, gelinde gesagt, irritierend, jedoch auch konsequent. Der Film von Georg Maas spielt in einem ähnlichen – sozusagen autonomen – Selbstfindungsmilieu.

Bei Peters und Maas geht es nicht um Politik, Arbeit, Gesellschaft und dergleichen, was sich prima abbilden lässt; dagegen wird der schutzlos entfremdete Einzelne mit seinen Macken, Privatmythologien und kleinen Fluchten zum Thema gemacht.

Die äußerst unterhaltsamen „Privaten Chroniken“ des russischen Regisseurs Witali Manski sind darin sozusagen doppelt subjektiv: Aus 5.000 Stunden Amateurfilmaufnahmen hat er eine Chronik der Jahre 1958 bis 1986 (als nicht nur der Alkohol geächtet, sondern auch die Produktion von Amateurfilmmaterial eingestellt wurde) zusammengestellt und einen lustigen Tagebuchtext drübergesprochen, der in seiner Lakonie ein bisschen an Wassili Jerofejew oder Schinkarjow erinnert. Es gibt also immer viel zu trinken, die Behörden werden überlistet, und Frauen sind auch immer dabei. Wo das Private Notwehr gegen die Zugriffe des Staates ist, die Filmamateure stets bei ähnlichen Gelegenheiten gefilmt haben (Trinken, Frauen, Freizeitvergnügungen), der Text in einer literarischen Tradition steht, verschwindet es im Allgemeinen.

Zur Eröffnung des 42. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm bat Tamara Trampe alle Regisseure auf die Bühne und sagte, sie freue sich darüber, „dass ihr alle da seid“. Ihr Duzen war wahrscheinlich ein kleiner Protest gegen die Damen und Herren in ihrer Abendgarderobe, die gekommen waren, um sich den Eröffnungsfilm, Peter Schamonis Porträt über Wilhelm II., anzuschauen.

„Majestät brauchen Sonne“ mit den enervierenden Stimmen von Mario Adorf und Bruno Ganz war ein ziemlich aufwendiger Flop – nicht so sehr, weil der Regisseur sich nun allzu monarchistisch gegeben hätte, sondern vor allem, weil er so respektlos mit den alten Aufnahmen des ersten Medienstars deutscher Geschichte umgegangen ist. Jedes Bild ist bis zur Unkenntlichkeit zugetextet, und die Stummfilmbilder des Kaisers mit der verkrüppelten Hand sind auch noch vertont; man hört also in Dolby-Stereo Pferdegetrappel, Vogelzwitschern, Marschieren usw., wenn Entsprechendes im Bild passiert. So recht kann man sich Wilhelm II. danach auch nicht vorstellen. Lassen wir das.

Auf der Premierenfeier im Kleinen Saal des Gewandhauses ließ sich Schamoni eine Pickelhaube aus Plastik aufsetzen. Im Großen Saal sang Demis Roussos währenddessen seine Lieder. In einem Kurzfilm hörte man noch mal die Parolen, die die DDR zum Einsturz brachten; „SED – das tut weh“ und „FDJ – so ein Schrott“. Diskussionen wurden gern ideologisch-rechthaberisch geführt.

In „Vaglietti zum Dritten“ erzählt der Schweizer Alfredo Knuchel vom komplizierten Comebackversuch eines ehemaligen Schweizer Boxmeisters. Weil uns der Film so gut gefiel, sprach eine Freundin dann immer vom Regisseur Alfredo Knuffel. Verdiente Preise bekamen andere.

Am Ende sitzt man in einer getäfelten Kneipe, wo kein Normaler hingeht, also alle Normalen hingehen, würde gern einen Dokfilm über die Leute sehen, die da auch sitzen, und ist traurig, dass das schönste Filmfestival schon wieder vorbei ist.

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