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Vier Tote und kein Motiv

Nach dem Amoklauf eines 16-jährigen Schlosserlehrlings herrscht in der Kleinstadtidylle von Bad Reichenhall lähmendes Entsetzen. Motiv noch immer unklar  ■   Von Klaus Wittmann

Vierundzwanzig Stunden lang war die Riedelstraße in Bad Reichenhall hermetisch abgeriegelt. Seit 12 Uhr am Allerheiligenmontag herrscht unheimliche Stille, ist dieses lähmende Entsetzen zu spüren, das man sich nach ähnlichen Amok-Anschlägen in Amerika bestenfalls vage vorstellen konnte. Jetzt ist eine solche Tragödie auch hier in der bayerischen Idylle Wirklichkeit geworden.

Kurz nach 12 Uhr mittags fielen an diesem Novembertag plötzlich mehrere Schüsse aus dem Haus Nummer 12. Zwei Menschen brachen auf der Straße zusammen, eine Frau und ihr Ehemann, getroffen von den tödlichen Salven, die vermutlich der 16-jährige Schlosserlehrling Martin P. aus dem Haus seiner Eltern abgegeben hat. „Vermutlich“ deshalb, weil auch am Tag nach dem grauenvollen Anschlag noch nicht endgültig klar ist, ob der junge Mann tatsächlich der Amokschütze war.

„Das soll die Obduktion klären, aber auf Grund des Tatbildes gehen wir davon aus, dass er der Täter war“, erklärt der Traunsteiner Polizeisprecher Fritz Braun. Martin P. hat sich im Laufe des Montagnachmittags in der Badewanne seines Elternhauses selbst erschossen; zuvor hat er – so wie es aussieht – noch seine 18-jährige Schwester umgebracht.

Stundenlang mussten die Retter und Einsatzkräfte am Tatort auch um ihr Leben bangen. Immer wieder fielen Schüsse, wenn sich Rettungskräfte den Toten und Verletzten näherten. Geschossen wurde auf alles, was sich bewegte. Sanitäter Rudi Lorenz schildert den gefährlichen Einsatz: „Ich sah, wie etwa 40 Meter voraus ein Mercedes steht, davor lagen drei Personen, die um Hilfe riefen. Drei, vier Polizeibeamte halfen mir, unseren Notarztwagen ins Schussfeld zu schieben.“

Die zum Teil schwer verletzten Opfer können geborgen werden, unter ihnen der Schauspieler Günther Lamprecht und seine Lebensgefährtin. Lamprecht ist inzwischen außer Lebensgefahr, nicht aber seine Lebensgefährtin. Geschossen hat Martin P. offenbar aus einer Waffe seines Vaters. Die Eltern werden noch immer von Polizeipsychologen betreut. Zum Motiv des Jungen gibt es bislang keinerlei Hinweise.

Exakt vierundzwanzig Stunden nach der Tat wird die Polizeiabsperrung für die Heerschar von Kamerateams und Reporter geöffnet. Trotz des dichten Gedränges liegt über der Riedelstraße eine beklemmende Ruhe. Anwohner stehen schweigend da und beobachten die Szenerie. „Das hätte jeden von uns treffen können“, sagt eine ältere Dame, die den Martin vom Sehen her kannte. In der Nähe des Tatortes steht auch ein ehemaliger Klassenkamerad. Seine Schwester war die beste Freundin der getöteten Schwester des Amokschützen. „Mich haben Freunde angerufen und gesagt, er hat Leute erschossen und seine Schwester umgelegt. Ich kann das nicht glauben, er war einfach ein ruhiger Typ.“

Ähnlich wird Martin P. auch von Arbeitskollegen beschrieben – ruhig, nicht unsympathisch, einer, der selten lacht. Martin habe niemals von den Waffen seines Vaters erzählt. „Auf ihn wäre ich bei so was als Letztes gekommen“, sagt einer der Auszubildenden in der Lehrwerkstatt der Südsalz-Saline in Bad Reichenhall. Der Chef der Saline, Franz Furtner, sagt in die Mikrofone, dass der Junge vor acht Wochen seine Schlosserlehre begonnen hat, dass er von seinem Ausbildungsmeister als unauffällig und ruhig geschildert wird. „Er hat sich immer gemeldet, wenn er eine Arbeit abgeschlossen hatte, war pünktlich, ich kann sonst wenig zu ihm sagen.“

Immer wieder ist die Rede davon, dass Martin in der Berufsschule hin und wieder von Klassenkameraden gehänselt wurde, aber das lässt sich bislang genauso wenig festmachen wie die Berichte, Martin habe in seine Schulhefte Hakenkreuze oder Neonazisymbole gemalt. Ausschließen kann das keiner, aber direkt gesehen hat es von den Befragten auch niemand.

Die Polizei kündigt an, sich bei den Nachforschungen jetzt ganz gezielt an die Eltern zu halten. „Der junge Mann hatte wenig Kontakt zur Außenwelt, wie es scheint“, so der Polizeisprecher.

Die Menschen in Bad Reichenhall wissen auch am Tag nach dem Amoklauf schlicht und einfach nicht, wie sie mit einer solchen Tat umgehen sollen. Ein älterer Herr sagt: „Ich dachte, so etwas gibt's nur in Amerika.“

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