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Agatha und ich

■ Geben und Nehmen, Kommen und Gehen oder: Rad und Tat in der flachen Stadt Köln

Das Schöne an einer flachen Stadt ist, dass man dort Fahrrad fahren kann. Wenn man aber Gäste von auswärts hat und denen die schöne flache Stadt zeigen will, dann haben die keine Fahrräder. Deswegen steht bei mir vorm Haus ein Gästefahrrad, und wenn ich immer rechtzeitig sagen würde: „Die Handbremse geht nicht!“, dann wären meine Gäste auch rundum glücklich damit. Na ja.

Eines Tages war mein Gästefahrrad geklaut! Mit Rücktritt und Schloss und allem. Ich befestigte einen Schimpfzettel am Tatort. Das half aber nicht. Ich trauerte. Das half auch nicht. Andererseits lag seit Monaten direkt gegenüber in einem Gebüsch ein hübsches, gelb lackiertes Damenrad mit schwarzen Punkten. Ein trostloser Anblick. Ganz allein, mitten in der Großstadt! Ich beschloss, es zu befreien, wartete auf die Dämmerung, und zehn Minuten später hatte ich ein neues Gästefahrrad. Ich musste nur noch die Reifen flicken, die Kette ersetzen, die Schutzbleche richten, einen neuen Sattel besorgen und alles, was laut klapperte, wegwerfen. Schon am nächsten Abend durfte es, mit neuem Schloss und ohne Handbremse, wieder runter auf die Straße.

Morgens hing am Lenker ein gelbes Band. Am Band hing ein kleiner Plastikbeutel. Im Beutel war ein Umschlag. Im Umschlag war ein Brief: „Lieber Fahrradbesitzer, ich bin froh, dass sich endlich jemand um mein altes Rad kümmert! Ich komme selbst einfach nicht dazu. Das Rad wurde vor vielen Jahren auf den Namen Agatha getauft. Ich wünsche euch immer ein schönes Ziel voraus und den Wind im Rücken!“ Der Brief war nicht unterschrieben. Eine Frauenschrift? Vielleicht.

Reumütig schrieb ich selbst einen Zettel, in dem ich wortreich erklärte, ich hätte Agatha adoptiert, weil sie dort so armselig im Gebüsch lag. Ich pries Agathas angenehmes Wesen und bot sogar einen Zweitschlüssel zwecks Bike-Sharing an. Es kam keine Antwort.

Aber so kam Agatha zu mir. Warum sie jetzt nicht mehr bei mir ist, ist eine andere Geschichte.

*

Das Praktische an einer 4er-WG ist, dass, wenn nachts um zwei die Polizei auf einer Party den Verstärker konfisziert, noch drei weitere Mitbewohner einen Verstärker haben, um die Beschallung der Gäste und der Nachbarschaft fortzusetzen. Auf so einer WG-Party waren mein Freund M. und ich. Freund M. war eigens angereist, und wir hatten nachmittags zusammen 30 Mark beim Pferderennen gewonnen („Digitalis“ auf Platz). Deshalb gaben wir allen Partygästen bereitwillig Auskunft, was wir mit dem Geld anstellen würden, und ich erinnere mich düster an ein Golfschulen-Projekt auf dem Mond ...

Irgendwann gegen vier sagte ich: „Freund M., hopp, aufs Rad! Wir fahren heim!“ Freund M. wollte aber noch bleiben. „Schön“, sagte ich „dann kommst du einfach mit Agatha, dem Gästefahrrad, nach.“ Keine Viertelstunde später lag ich im Bett und schlief ein. Dann, irgendwann, klingelte das Telefon: „Martin, ich hab mich verfahren. Hol mich ab, bitte!“ – „Wo denn?“ – „Weiß ich nicht.“ – „Du spinnst wohl! Ich schlaf jetzt wieder ein, und du kommst her!“ Ich schlief wieder ein. Und wieder klingelte das Telefon: „Martin, ich hab keine Ahnung, wo ich bin! Was soll ich denn machen?“ Ich riet ihm, einen Taxifahrer nach der Richtung zu fragen und schlief wieder ein. Als ich erwachte, war auch Freund M. da. Nicht da war: Agatha.

Freund M. hatte meinen Rat befolgt und einen Taxifahrer gefragt. Allerdings war er selbst ins Taxi gestiegen, nachdem er Agatha angeschlossen hatte. Nur wo, wusste er nicht. Ich telefonierte lange mit der Taxizentrale und fahndete nach dem Fahrer. Freund M. suchte die ganze Stadt ab ...

Irgendwo in Köln steht seitdem ein Damenrad, gelb mit schwarzen Punkten. Wenn ihr es seht: Es gehört euch! Seid gut zu ihm, es hört auf den Namen Agatha.

Martin Nusch

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