: Berufskrankheit Neugier
■ Wie Letten lallen und die Tristesse wie ein guter Rotwein heranreift: erste Eindrücke vom flutigen Osteuropa-Festival „Mare Balticum“ in der Oldenburger Kulturetage
In den Fluten des „Mare Balticum“, dem Osteuropa-Festival der Oldenburger Kulturetage, können geneigte RezensentInnen leicht mal untergehen. Da muss man früher aus einer Filmvorführung raus, um noch beim Tanztheater rein zu kommen, und der Tag will nicht enden, weil die „Late Night Show“ ihren Namen verdient und verspätet beginnt. Da RezensentInnen ihr Urteilsvermögen aber bekanntlich gerne mal bei einem Glas Rotwein schärfen, bietet die angrenzende Restauration Möglichkeiten zum verschnaufenden Innehalten.
Denkste jedenfalls.
Denn die Berufskrankheit Neugier schnappt vom Nebentisch Bröckchen auf Englisch und dann einen merkwürdigen Sing-Sang auf, der sowohl finnisch als auch lettisch, auf jeden Fall aber betrunken klingt. Da sitzen die verspäteten Jazzer der „Late Night“ vor leeren Weinkaraffen, tunken ihre – ausnahmslos ausgeprägten – Nasen immer wieder in große Cognacschwenker – Affinität von Nase und Nass prüfend –, sind sodann entschlossen, das letzte Glas beherzt zu leeren, um mit einem Ruck und irgendwie dem Gig zuzusteuern.
Es sind dies Randnotizen eines Festivals, das mit einem kontrastreichen Programm über Oldenburg hinweg schwappt. Doch offenbar braucht das Publikum Zeit, um wahrzunehmen, welch kleine Juwele die FestivalmacherInnen da zum Teil geborgen haben.
Das „Frauenvokalensemble Putni“ aus Riga konnte am Freitag in der Lambertikirche nur auf wenige ZuschauerInnen blicken, die umso andächtiger in den wundervollen Klanggeweben der acht Stimmpersönlichkeiten versanken. Unter der Leitung der Altistin Antra Drege erarbeiten die Lettinnen seit sechs Jahren ein spannungsreiches Rerpertoire. Es reicht von spätmittelalterlichen englischen Chorälen bis zu zeitgenössischen lettischen Kompositionen, deren Modernität überrascht, neigt man doch eher dazu, den „swingenden RevolutionärInnen“ volkstümliche Traditionalität zuzuschreiben.
Wie Rufe von weit her locken Sopranstimmen auf sanft wogendem Altsatz. Maija Einfeldes Sirenen (Lettland, 1939) tauchen aus einer anschwellenden Flut des Verlangens auf und spielen mit ihren Stimmen Versteck. Ein eindringlicher, offener, poröser Ton durchdringt dieses schön-schaurige Stück, das auch mit amüsanten Einwürfen überrascht.
Graugrün, blaugrün, schwarz-braun ist dagegen die Farbpalette in Sarunas Bartas erstem Spielfilm. „Trys Dienos“, der 1992 auf der Berlinale debütierte, erzählt von zwei jungen Männern, die vom Land in die Stadt fahren, einem Mädchen begegnen, Zeit und zwei Nächte teilen. Sie sprechen nicht viel, diese frierenden Jugendlichen. Sie treffen sich auf einem Platz, steigen über Dächer, klettern durch Fenster, landen in langen Fluren und verdreckten Räumen, in denen nur Zigaretten die Nacht erträglich machen. Da ist das irre Lachen des Mädchens über ein Scheißleben. Bartas gelingt mit photographischer Klarheit ein filmisches Gemälde von überwältigender Tristesse. Einzig die Menschen beleben die graue Landschaft Litauens, die bröckelnden Hafen- und Stadtgefilde. Auch dieser Film – eine leise Randnotiz, der sich erst in seinen Nachwirkungen voll entfaltet und als nachhaltiger Eindruck durchsetzt gegen lautere, amüsantere Wahrnehmungen im Festivalgetümmel. Er reift nach – wie das Glas Rotwein. Marijke Gerwin
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