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Zu viel Süßes vor dem Mittag

■  Das Regieduo Kühnel & Schuster eröffnet das neue Frankfurter Theater am Tor. Im Kollektiv wird der alte Geist des TAT reanimiert

Derart unprogrammatisch schafft man kein neues Theaterlabor aus dem Geist der Mitbestimmung

Am Ende öffnen sich die riesigen Läden der Fenster hin zum Vorplatz des Bockenheimer Depots wieder, und die Zuschauer werden plötzlich selbst zu Objekten. Draußen auf dem Platz flanieren Passanten, stocken, sehen in den großen Theaterraum und betrachten die Zuschauer, die drinnen von ihren ansteigenden Stuhlreihen nach draußen sehen. Das wirkt, als habe das Regieduo Tom Kühnel & Robert Schuster das Theater am Turm zuerst einmal entzaubern wollen, bevor sie sich selbst daran machen, neuen Theaterzauber zu entfalten. Und so wie der Eröffnungsabend endete, wäre das auch ein durchaus starker Einstieg gewesen. Aber der umgekehrte Zuschauerraum öffnete sich leider nur kurz und erst am Ende eines Abends, der eigentlich eine neue Frankfurter Theaterzeitrechnung einläuten sollte.

„Deutsch für Ausländer“ nennen Kühnel & Schuster ihre Einstiegsinszenierung, mit der sie eine Grundlagenforschung über Sprache versuchen. Da zu einem Neustart mehrere Premieren gehören, folgte am Samstag mit „Welttheater“ eine Erkundung der Theatermöglichkeiten aus dem Geiste der Commedia dell'Arte. Das Ganze soll sich in einer Folge von acht Abenden entwickeln und zu einem Stück heranwachsen. Textlieferanten sind Roland Schimmelpfennig, Marius von Mayenburg, Sören Voima und Albert Ostermaier, die in ihrer Fortsetzungs-Commedia-dell'Arte die vier menschlichen Grundtemperamente des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers auszustaffieren haben.

Die erste Folge dauerte gerade mal eine Stunde, obwohl mit Schimmelpfennig und von Mayenburg gleich zwei Jungdramatiker Texte angeliefert haben. Dass dabei nicht mehr als eine rüde Comedia-Story über eine schräge Hochzeit herauskam, während die acht TAT-Schauspielerinnen und -Schauspieler lediglich ein hinter Charaktermasken verstecktes Grobstrick-Theater ablieferten, offenbart ein Grundproblem des Neustarts: Die TAT-Mannschaft gibt sich naiv, als sei es tatsächlich möglich, das Theater-Abc noch einmal neu zu entdecken. Der Anspruch allerdings, nicht auf vorhandene Stücke zurückzugreifen, sondern Text und Theater im gemeinsamen Diskussions- und Probenprozess entstehen zu lassen, hat zuerst einmal eine neue Dürftigkeit zur Folge. Dass sich das ausgerechnet in Frankfurt abspielt und man zuerst einmal abwarten muss, ob sich das Kettenstück im Dezember und Januar noch mausert, ist insofern pikant, als Kühnel & Schuster aus dem desolaten Frankfurter Schauspiel unter dem jetzigen Intendanten Peter Eschberg ausgezogen sind, um mit dem Plazet von Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) am TAT etwas Neues in Szene zu setzen. Nach ihrem Eröffnungsdoppel stellt sich allerdings ein Gefühl ein, als habe man gegen den Rat der Mutter Süßigkeiten vor dem Mittagessen genascht – nun wartet man ohne rechten Hunger auf das Hauptgericht.

Und man blickt wieder einmal verwundert auf das Frankfurter Geschehen, dessen kulturpolitische Irrungen und Wirrungen zu den absurdesten der Republik zählen. Das alte TAT etwa steht mit seinem Erbe aus den Siebzigerjahren und Namen wie Fassbinder für ein gescheitertes Theatermitbestimmungsmodell, wurde in den Achtzigerjahren unter Tom Stromberg zum Experimentierraum für avantgardistisches europäisches Theater und am Ende von einer konzeptionslosen Oberbürgermeisterin zur Disposition gestellt. Genau diese Oberbürgermeisterin will im Moment die Nachfolge ihres gescheiterten Schauspielchefs Eschberg regeln und setzt zu diesem Zwecke ihren gescheiterten Schauspielchef in die Berufungskommission, auf dass er seinen eigenen Nachfolger mitbestimme.

Gleichzeitig stellt sie den einmaligen Theaterraum im Bockenheimer Depot einem Leitungsteam, bestehend aus dem Choreografen Tom Forsythe sowie Kühnel & Schuster, zur Verfügung. Die Jungregisseure wiederum wollen offenbar die alten TAT-Ideale neu beleben: Im Ensemble bestimmen alle, ob Dramaturg, Bühnenbildner oder Schauspielerin, die Inhalte und verdienen gleich (wenig), was in krassem Gegensatz zum Frankfurter Schauspiel steht. Dort stimmt eigentlich nur noch die Gage des Chefs. Je nach Anzahl eigener Inszenierungen stößt Eschberg locker in die 400.000-Mark-Klasse vor, während Kühnel & Schuster ein Zeichen im gagendelirierenden Theaterbetrieb setzen. Gerade sie als künstlerische Köpfe des Neustarts könnten an anderen Theatern weitaus mehr verdienen und hätten dagegen im Prinzip wohl auch nicht unbedingt etwas einzuwenden. Sie betonen allerdings, dass ihnen das Betreten von Neuland sowie ein „variabler und offener Spielbetrieb“ als Gegenmodell zum herkömmlichen Theaterbetrieb wichtiger sei. Das alles kann man unter den Randbedingungen eines Reanimationsversuches durch die neuen TAT-Macher verbuchen, nachdem sie erst vor vier Jahren die Regieausbildung an der Kaderschmiede des neuen deutschen Theaterwunders, der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, beendet haben.

Die Ziele sind hoch gesteckt und sollen mit bescheidenen Mitteln erreicht werden. In einem Sonderdruck zum Neustart etwa beschreiben die Macher „das neue Forschungsprogramm des TAT“: „Diese Erforschung der Wirklichkeit ist affirmativ. Sie kritisiert nicht, sie dokumentiert. Nur die Bekräftigung der Situation verhilft zu ihrer Erkenntnis. Nur durch die affirmative Beobachtung bekommt die Wirklichkeit bestimmbare Konturen. Das Theater muss wieder als affirmative Kunst verstanden werden.“ Kinder, wollt ihr ewig spielen, möchte man fragen, hat zuerst aber einmal damit zu kämpfen, dass eine derart unprogrammatische Programmatik kein neues Theaterlabor aus dem Geiste der Mitbestimmung, sondern ein an seinen Ansprüchen laborierendes Theater zur Folge hat. „Deutsch für Ausländer“ etwa gibt sich, als würde mit der Sprache der Hauptpfeiler des Sprechtheaters erkundet. Da allerdings auf einen homogenen Text verzichtet und lediglich mit einem Duden-Text-Sampling gearbeitet wurde, in dem Sprechmoleküle und zwischenmenschliche Situationen im Großbetrieb Deutschland durchgespielt werden, bewegen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler wie verhinderte Sprachlehrer durch den Theaterraum. Das ist nett, mehr nicht.

Brisant könnte das Ganze werden, wenn es in der Erforschung deutscher Sprech- und Verhaltensstandards zu schroffen Brüchen kommt. Wenn etwa Sylvana Krappatsch mitten im Mitleid, das sie mit der Offenbarung vom plötzlichen Tod ihrer kleinen Tochter hervorruft, unvermittelt Geld für das betriebliche Frühstücksbuffet abkassieren will. Aber Theater über Geschichten hinter den Stereotypen wird nie daraus, sodass lediglich die Hoffnung bleibt, wenigstens aus der Welttheater-Kiste werde in den nächsten Wochen etwas Substanzielleres krabbeln. Sie steht im hinteren Teil des Bockenheimer Depots und wirkt im kollektiven Spiel mit großem Anspruch bei kleiner Theaterform wie eine Jahrmarktsbude. Den nächsten Textschub liefert Sören Voima, Ghostwriter des TAT-Kollektivs. Anfang nächsten Jahres wird Albert Ostermaier die erste Runde des Kettentextes abschließen und die TAT-Mannschaft ihre Kooperation mit Thomas Ostermeiers Schaubühne starten. Jürgen Berger

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