: Hauptstadt im Hintertreffen
■ Spätestens Silvester 2000: Die Schröders zurück nach Hannover?
Ob wir wollen oder nicht – Silvester wird kommen. Die Vorbereitungen laufen. Der kleine Mann kauft kistenweise Knaller, um ein dem epochalen Jahreswechsel würdiges Feuerwerk abzufackeln, die kleine Frau koffert Sekt, das kleine Kind kreischt bereits jetzt vor Freude, tausendmal so lang wie sonst aufbleiben zu dürfen.
Ein Bild der einträchtigen Ekstase. Funken ganz anderer Art schlägt eine Debatte, die durch die dpa angestoßen wurde. Unsere Topkräfte aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport ziehen keineswegs an einem Strang, wenn es darum geht, den Millenniumssprung gebührlich zu absolvieren.
Die einen verweigern schlicht die Teilnahme. Steuerflüchtling Michael Schumacher (Ferrari) kehrt der Heimat den Rücken, scheißt auf Brandenburger Tor und Siegessäule und brummt gen Norwegen. In seinem Trysiler Blockhaus sehe er, so dpa, einer ruhigen Feier entgegen. Hildegard Knefs Manager ließ ausrichten, die Volkssängerin „sei keine Silvester-Partygängerin“ und schere sich einen feuchten Kehricht um das ganze Affentheater. Noch drastischer geht der alte Seebär, Kunstkitschier und Propaganda-Romancier Lothar-Günther Buchheim in Stellung: „Das ist eine ärgerliche Angelegenheit und nur für Primitivköpfe ein Event.“ Nämlich etwa den dummen Tropf Ch. Schlingensief, der Namibias Wüsten unter Wagner-Klänge setzen möchte. Wo bleiben da seine neuen Kumpelkameraden, die Nationalungeheuer Langhans und Mahler? Bislang fehlt von ihnen jede Erklärung.
Die hellsten, schnellsten und plietschesten Köpfe Deutschlands bekunden dit und dat. Barbara Noack, „frisch verliebte Erfolgsschriftstellerin“, säuft in einem Berliner Hotel, Vicky Leandros behauptet, sie wolle einfach „noch zusammensitzen“, Reinhard Mey will „allen Risiken entgehen“ und schwanzkneifend zur „weiteren Familie aufs Land bei Hannover“. Hannover? Why? Oder Hamburg? Auch gut. Inge Meysel: „Ich geh' an die Elbe und lasse das neue Jahr hochleben.“ Einen Meter und dreiundfünfzig?
Nun, solchen Bekenntnissen fehlt die echtdeutsche Tiefe, fehlen Ernst und das Trachten nach dem spirituellen Sinn des Megaevents „Silvi 2000“ (Dieter Bohlen). Der Hamburger Starchoreograph John Neumeier kommt der Sache schon näher: „Für mich ist es total unwichtig, wo ich Silvester bin, für mich ist nur wichtig, dass ich in mir bin.“ Keine Ahnung, mit welchen Techniken er das packt. Gesinnungsgenosse Rudi Moshammer (München) ist derweil nur gegen Honorar bereit zu verraten, was er an besagtem Abend zu treiben gedenke – evtl. zieht es ihn Richtung Kiel, wo Heide Simonis „im Lagezentrum der Polizei sein“ wird, „sicherheitshalber, falls ein größerer Computercrash passiert“ oder ein Sack umfällt.
Wir sehen, die „Situation“ (M. Schumacher) ist „unübersichtlich“ (J. Habermas). An der Spitze der Bewegung, sozusagen on top of the Festzug, stehen indes, ihrer Verantwortung für Land, Leute und Geschichte vollauf bewusst, Kanzler Gerrit Schröder und Gattin Köpf-Doris. Ebenjene steckte der dpa: „Wir mögen den beide nicht so gern“, den Sekt, und deshalb erlaube man sich, dem einzigartigen Termin durchaus angemessen, gewisse Meinungsverschiedenheiten. Doris greife Gongschlag zwölf zu einem „guten Weißen“, Gerhard zu „einem gescheiten Roten“. Sehr klug, das.
Allerdings, ein Problem scheint bis dato ungeklärt: die Wahl des Silvesterstandortes. „Wir werden zu Hause mit Freunden feiern. Gut und relaxed. Noch ist nicht klar, ob in der Kanzlerwohnung in Berlin oder in Hannover. Die Tendenz geht aber nach Hannover.“
In Berlin sein oder unter Hannovers Kerzenschein, das ist die Frage! Eine Tendenz soll es geben. Kann Berlin noch mal kontern? Was tut sich in den Köpfen der Kanzlers? Schwanken sie (schon)? Wie stark tendiert Hannover? Wann fällt die endgültige Entscheidung und die Mauer in den Köpfen? Muss ein Gesetz her?
Deutschland ist aufgerufen, dem mächtigsten Paar der Republik bei der Wohnungsfindung zu helfen. Rufen Sie an (030/ 20 17 90)! Geben Sie Ihre Stimme ab! Heben Sie die Stimmung im Kanzleramt! Auch wir tun unser Bestes und werden ab morgen täglich den neuesten Pegelstand verkünden. Weiter Tendenz Hannover? Oder Renitenz Berlin?
Jürgen Roth
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