: Lebensmittel auf Rezept
Der Wettlauf um den gesündesten Speisezettel ■ Von Nicole Jäger-Koydl
Schon probiert, den neuen probiotischen Joghurt mit Johanniskraut? Pflegt die Darmflora und besänftigt die Nerven – und rezeptfrei ist er auch. Es wird nicht mehr lange dauern, da werden wir kaum noch den Unterschied zwischen Medikament und Lebensmittel erkennen. Die Inhaltslisten auf industriell verarbeiteten Lebensmitteln erreichen fast schon die Länge von Beipackzetteln apothekenpflichtiger Arzneimittel. Fehlt nur noch der Hinweis: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie – ja wen?
Der Dschungel der Zusatzstoffe ist für den Verbraucher nahezu undurchdringlich geworden. Omega-3-Fettsäuren im Frühstücksei, zusätzliche (Kunst-)Vitamine in Babynahrung und Obstsäften, Jod im Speisesalz, prebiotische Fruchtzucker im Brötchen, probiotische Bakterien im Joghurt. In den USA wird das Mehl mit Folsäure angereichert, die Milch mit Vitamin D. Unterernährt ist offenbar nicht die Dritte Welt, sondern die Erste. Uns fehlt es, glaubt man Wissenschaftlern, Pharmafirmen und Nahrungsmittelherstellern, am Elementarsten – und das sind längst nicht mehr Brot und Wasser, nein, es mangelt an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, wahlweise einfach oder mehrfach ungesättigten Fettsäuren und sekundären Pflanzenstoffen. Wir verhungern nicht mehr, dafür erwischen uns die freien Radikale. Erstaunlich, dass wir bei all dem Mangel immer älter und dicker werden. Erstaunlich auch, dass unsere Vorfahren ohne Kalorien- und Nährstofftabellen, Ratgeber und Ernährungsexperten überlebten.
Ernährung, so heißt es inzwischen, sei die einfachste und beste Prophylaxe gegen allerlei Wehwehchen, die den modernen Menschen befallen, aber auch gegen ernste Krankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall – und vor allem die große Geißel: den Krebs.
Die Gesundheitsvorsorge ist längst ein Wettlauf mit der Angst geworden. Der Krebs ist dabei nur die härteste Herausforderung. Wissenschaftler experimentieren mit gelbem, grünem und rotem Gemüse; mit kleinen, mittleren und Megadosen von Vitaminen. Denn das Paradox ist: Je älter wir werden, desto mehr fürchten wir den Tod. Der Menschheit schönster Albtraum – jener von ewiger Jugend und Gesundheit, der Traum, den Tod endgültig aus der Welt zu schaffen – geistert mehr denn je durch die Köpfe.
Die Angst vor Krankheit und Verfall ist zu einem lukrativen Geschäft geworden. Allein in Deutschland wurden 1998 rund 1,4 Milliarden Mark für Vitaminpräparate ausgegeben. Und doch plagen uns die Widersprüche des Lebens: Mit der Lebenserwartung steigt auch die Krebsrate. Jedes Jahr erkranken allein in Deutschland 300.000 Menschen an Krebs und zwei Drittel von ihnen sterben daran. Die Krebsforschung läuft auf Hochtouren, doch in vielen Fällen sind die Therapiemöglichkeiten beschränkt und zudem gespickt mit unangenehmen bis gefährlichen Nebenwirkungen. Also lieber Prophylaxe – ab sofort essen wir uns gesund.
Aber was heißt gesund? Besitzt der Weisheit letzten Schluss der Vegetarier oder der Veganer? Oder wissen die Ernährungswissenschaftler, was man darf oder soll, gar muss, und an was man besser nicht denken, geschweige denn es auf den Teller laden sollte?
Auch nationale und internationale Organisationen beteiligen sich inzwischen am Wettlauf um den gesündesten Speisezettel und warten mit detaillierten Ge- und Verbotslisten auf. Allerdings handelt es sich dabei mehr um Irreführung als um Wegweisung.
Die grenzenlose Vielfalt wissenschaftlicher Studien
So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) unter anderem die großzügige Aufnahme der Vitamine C und E und des Provitamins Beta-Carotin. Insbesondere das Beta-Carotin gilt als Krebsschutz, weil es freie Radikale, die im Verdacht stehen krebserregend zu sein, entschärfen könne. Gerade Rauchern wurde es ans Herz gelegt. Eine finnische Studie aber führte zu einem unerwarteten Ergebnis: Die Zufuhr einer erheblichen Menge des Provitamins führte bei den rauchenden Teilnehmern zu einer Erhöhung der Krebsrate um 18 Prozent. Eine zweite Studie bestätigte das Ergebnis. Raucher sollten Beta-Carotin also besser meiden. Und die Nichtraucher? Bei ihnen hatte es gar keine Wirkung.
„Die Theorie, dass einzelne Antioxidantien aus der Nahrung oder aus Supplementen freie Radikale fangen und so vor Krebs schützen“, sagt Ulrike Gonder vom Europäischen Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e. V. in Hochheim, „ist biochemisch naiv und wird von den epidemiologischen Daten nicht gestützt.“ Was die aktuellen Ratschläge zur Verminderung des Krebsrisikos durch Vitamine angeht, rät das British Medical Journal schlicht: „Vermeiden Sie hoch dosierte Vitaminpräparate.“
Die heutigen Ernährungsempfehlungen stützen sich gewöhnlich auf eine Studie von Doll und Peto aus dem Jahr 1981. Die beiden Epidemiologen hatten eine ausführliche Beurteilung vermeidbarer Krebsrisiken vorgenommen und den Einfluss der Ernährung auf rund 35 Prozent geschätzt. Interpretiert wird dies meist so, dass ein Drittel aller Krebsfälle durch Ernährung verursacht werde – oder anders herum: vermeidbar wäre. Die implizite Botschaft: Wer Krebs bekommt, ist selbst schuld, zumindest zu einem Drittel. Denn was wir essen, entscheiden wir selbst. Auch hier wird die Fußnote gern übersehen: Der Hinweis, dass es sich bei dieser Zahl um ein guesstimate“ handelt – eine Mischung aus Erraten (guess) und Geschätzt (estimate). Ebenso könne der Einfluss der Ernährung bei 70 oder nur bei 10 Prozent liegen.
Aber wie steht es mit Obst und Gemüse als Krebsprophylaxe? Können wir der Krankheit essend ein Schnippchen schlagen? Ulrike Gonders Antwort ist kurz und bündig: „Es liegt kein Beweis für eine schützende Wirkung von Obst und Gemüse vor.“
Eine japanische Studie ergab, dass Menschen, die täglich Obst aßen, ein doppelt so hohes Risiko hatten an Magenkrebs zu erkranken wie solche, die dies höchstens zweimal pro Woche taten. Eine andere Studie fand bei Frauen keine Korrelation zum Verzehr von frischem Obst und rohem Gemüse. Bei Männern hingegen sank das Risiko, wenn sie täglich Frischobst und rohes Gemüse aßen. Und bei nordeuropäischen Einwanderern in den USA erwiesen sich Äpfel als risikosteigernd. Sind Äpfel also der Sargnagel? Kaum. Die Sache ist einfacher: In nördlichen Ländern werden große Mengen von Äpfeln eingelagert, wovon ein Teil verschimmelt. Es erhöht also wohl nicht der Verzehr von Äpfeln das Magenkrebsrisiko, sondern der Verzehr verdorbener Äpfel.
Doch mit dem Grünzeug gibt es noch andere Schwierigkeiten. Voraussetzung für einen eventuellen Schutz ist offenbar eine traditionelle Nahrungsmittelverarbeitung. Die aber bedeutet wiederum eine Absage an reine Rohkost. Denn rohes Gemüse kann zu Verdauungsproblemen bis hin zu Darmschäden führen.
Gerade die Lebensmittelverarbeitung spielt eine große Rolle bei der Bildung von vor Krebs schützenden Substanzen. So schützen zum Beispiel Fleischgewürze und Marinaden vor der Entstehung Krebs erregender Substanzen, die beim Braten oder Grillen von Fleisch entstehen. Offenbar betreibt die Menschheit so seit vielen Generationen wirksamen Krebsschutz – und der heißt Esskultur und Küchentechnik.
Doch hier beginnt in unserer hektischen Zeit schon das nächste Problem: Die bewährten traditionellen Zubereitungsgewohnheiten werden nachhaltig verändert und ersetzt. Welche biologischen Wirkungen die modernen Methoden und Ersatzstoffe haben, ist noch offen. Die diesbezüglichen Experimente laufen trotzdem auf Hochtouren: Versuchskaninchen sind die Verbraucher.
Teures Spezialfutter für Darmbakterien
Den Schlüssel zum Verständnis von Ernährung und Krebs liefern unsere symbiotischen Mitbewohner, die Darmbakterien. Sie beeinflussen unter anderem die Bildung verschiedenster Substanzen im Darm. Bestimmte pflanzliche Hormone, die Phytoöstrogene, sind zum Beispiel gute Kandidaten für den Krebsschutz – vorausgesetzt, sie werden richtig verarbeitet und die Darmflora ist funktionstüchtig.
All jenen, deren Verdauung unter Diäten, Stress, Alkohol, Antibiotika oder sonst was zu leiden hat, wird nun von der Lebensmittelindustrie die neueste Waffe ans Herz: Der probiotische Joghurt, der eine ganze Batterie gesunder Bakterien enthalten soll. Doch die Versuche, neue Keime im Darm anzusiedeln, schlugen bisher fehl. Die angestammte Flora nutzt ihren Heimvorteil, Neuzugänge haben keine Chance. Deshalb gibt es nun die Prebiotika. Sie liefern einen Fruchtzucker, der als Verpflegung für die Mikroben dienen soll. Studien kamen allerdings zu wenig erfreulichen Ergebnissen: Egal ob mit oder ohne Futter, nach dem Absetzen der aufgebrezelten Joghurts waren die Bazillen wieder weg – und mit ihnen ein Teil der körpereigenen Darmflora. Wie lange es dauert, bis dieser sich davon wieder erholt, ist nur eine der noch offenen Fragen. Doch die Produkte stehen bereits im Supermarkt. Die meisten Joghurthersteller sehen da keine Probleme. Arzneimittelfirmen sind vorsichtiger. Die Beipackzettel von Probiotika aus der Apotheke warnen vor Einnahme bei Gallen-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenproblemen.
Die Schwierigkeiten mit der Ernährung als Prophylaxe fasst die Ökotrophologin Gonder so zusammen: „Das komplexe Zusammenspiel zwischen Krebsrisiko, der Ernährung und der Darmflora der Menschen ist bis heute nicht aufgeklärt, ganz zu schweigen von den beträchtlichen individuellen Unterschieden in der Verstoffwechslung jener Substanzen, die in die Darmwand gelangen.“
Man kann es auch anders formulieren: Es gibt kein pauschales Krebsrisiko. Die individuellen Risikoprofile der Menschen, so Gonder, unterscheiden sich hinsichtlich genetischer Veranlagung, Alter, Geschlecht, Hormonhaushalt, der Zahl der Kinder, der Tages- und Kunstlichtexposition, der Hygiene, der zivilisatorischen Errungenschaften wie Kühlschränken, des Insulinspiegels, der Belastung durch Krebs erregende Stoffe, der körperlichen Aktivität, der Darmflora und der Enzymausstattung. Es ist ein Spiel mit sehr vielen, auch individuellen Unbekannten – es ist Biologie, nicht Physik. Jeder von uns reagiert auf Grund dieser Unterschiede anders auf Krebs erregende Stoffe. Wenn es aber kein pauschales Krebsrisiko gibt, machen auch pauschale Ratschläge zur Vorbeugung keinen Sinn.
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