: Oberst in der Nachspielzeit
DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 6: DIE 50ER-JAHRE – Der Ungar Ferenc Puskas und der gescheiterte Versuch, einen sozialistischen Sporthelden zu finden ■ Von Hagen Boßdorf
Viele Jahrhundert-Fußballer sind schon gekürt worden. Aber alle Juroren übersahen immer das Problem mit den Äpfeln und Birnen: Wer will ernsthaft Nat Lofthouse mit Rudi Völler vergleichen, welcher Maßstab soll für Gilmar und Toni Schumacher gleichermaßen gelten oder für Imre Schlosser und Zinedine taz-AutorInnen bewerten Spieler in ihrem Umfeld und in ihrer Zeit. Streng ob jektiv, versteht sich, mit subjektiver Auswahl. Unsere Serie wird alle 10 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einzeln abdecken.
Man sieht ihm seine vielen Tore nicht mehr an, die vielen Abendessen dagegen schon. Seine Arme scheinen viel zu kurz geraten für diesen runden Körper. Wer ihn umarmen will, prallt schnell ab am wohl geformten Bauch. Wenn Tore Fett ansetzen würden, dann wäre er sichtbar der treffsicherste Torjäger aller Zeiten. Das ist Ferenc Puskas, der als Vorbild der sozialistischen Jugend Osteuropas den Weg weisen sollte und der dann doch lieber seinen eigenen Weg ging.
Der am 2. April 1927 geborene Ferenc Puskas begegnet dem Fußball in den Hinterhöfen des Budapester Arbeiterbezirks Kispest. Er ist viel schmächtiger als die anderen Jungs und muss sich mit Geschick und Pfiffigkeit weiter helfen. Mit dem linken Fuß schießt er seine Tore, was seinem ersten Trainer, Ferenc Puskas sen., überhaupt nicht gefällt: „Fußball spielen ist eine Kunst“, predigt der seinem Sohn, „aber du wirst sie nie erlernen, weil du zu faul bist und dir einbildest, alles mit dem linken Fuß machen zu können.“ Schon mit 16 Jahren spielt Ferenc Puskas 1943 in der Armeemannschaft von Honved Budapest. Zwei Jahre später ist er Nationalspieler und bleibt ab 1950 vier Jahre und 34 Länderspiele ungeschlagen.
Bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki darf die DDR noch nicht mitspielen, die Bundesrepublik reist mit einer reinen Amateurelf an, deren Spielführer Eberle ein Dorfschullehrer und Linksverteidiger von Ulm 46 ist. Die Ungarn dagegen sind eine eingespielte Truppe, die nach dem Zweiten Weltkrieg in semiprofessionellen Klubs ausgebildet wurde. Im Endspiel gegen Jugoslawien (2:0) trifft auch Ferenc Puskas einmal. Am 24. November 1953 folgt die Sensation von London. Im Wembley-Stadion gewinnt Ungarn gegen England mit 6:3, Puskas schießt zwei Tore. Die erste Heimniederlage der Engländer seit 90 Jahren.
Nach diesen Erfolgen wird Ferenc Puskas auch in der DDR zum Sporthelden für die Jugend aufgebaut. Natürlich ist die ungarische Fußball-Nationalmannschaft in den 50er-Jahren so stark, dass sie sich mit den Lehrlingen aus dem deutschen Osten überhaupt nicht abgibt. 1951 findet während der Weltfestspiele der Jugend in Berlin nur ein Schau-Spiel der Ungarn gegen Dynamo Moskau statt. Auf der 1. Fußballkonferenz der DDR wird das Bruderland zum großen Vorbild erklärt. Ab 1953 trainiert der frühere ungarische Nationalspieler Janos Gyamarti die DDR-Auswahl. Im Mai 1954 wird eine Delegation von 90 Spielern, Trainern und Funktionären des DDR-Fußballs nach Budapest geschickt. Sie erleben das 7:1 – die höchste Niederlage der Engländer. Puskas trifft wieder zweimal und wird zum Major der ungarischen Armee befördert.
Die Fußball-WM 1954 in der Schweiz soll zur Krönung des besten Fußballteams der 50er-Jahre werden. Nach den Vorrundenspielen gegen Südkorea (9:0) und Deutschland (8:3) gibt es keine Zweifel mehr an der Übermacht der Ungarn. Ferenc Puskas verletzt sich allerdings am Knöchel nach einem brutalen Foul des deutschen Verteidigers Liebrich und fehlt gegen Brasilien (4:2) und Titelverteidiger Uruguay (4:2 nach Verlängerung). Beim Endspiel ist der Kapitän der Ungarn wieder dabei, fit ist er nicht. Nach sechs Minuten spielt der „Major“ zwar den deutschen Torhüter Toni Turek beim 1:0 aus, später allerdings versagt er. Er verschenkt einige Großchancen und erzielt in der 86. Minute nur noch ein Abseitstor. Deutschland ist Weltmeister.
Während Fritz Walter von 400.000 Leuten in München erwartet wird, steigt Puskas 60 Kilometer vor Budapest heimlich aus dem Zug, um den Protesten derFans zu entgehen. Während DFB-Präsident Bauwens lobt, dass „unsere Mannschaft mit der deutschen Fahne im Herzen auf den Gegner los stürmte“, sah Ferenc Puskas andere Gründe für die schmerzliche Niederlage. Der Gegner sei gedopt gewesen. Sein Beleg dafür ist die Gelbsucht, die kurze Zeit später viele deutsche Spieler befällt. Erst Jahre später nimmt er diese Vorwürfe zurück. Da ist man in der DDR zum ersten Mal von ihm enttäuscht.
Puskas und seine Kameraden bleiben aber noch die großen Leitbilder der DDR-Nationalspieler. Auswahltrainer Gyamarti organisiert im Juni 1955 sogar ein gemeinsames Trainingslager mit Honved Budapest. Für viele Jahre die letzte Chance, sich die Tricks von Ferenc Puskas aus nächster Nähe abzuschauen.
Als in Ungarn 1956 der Volksaufstand tobt, trainieren die Armeefußballer von Honved Budapest gerade in Bilbao. Puskas bleibt in Spanien. Glatte Fahnenflucht. Der Major muss zwei Jahre warten, bevor er bei Real Madrid seine Karriere fortsetzen darf. In den Fußballbüchern der DDR ist über diesen „Vereinswechsel“ nichts zu lesen. Puskas wird noch fünfmal spanischer Meister und viermal Torschützenkönig. Im Europapokalfinale der Landesmeister 1960 schießt er beim 7:3 gegen Eintracht Frankfurt vier Tore. Später spielt er noch drei Jahre im kanadischen Vancouver und trainiert Mannschaften auf allen fünf Kontinenten. PanathinaikosAthen führt er 1972 sogar ins Europapokalfinale der Landesmeister gegen Ajax Amsterdam (0:2).
Ungarn besucht er erst 1981 wieder – nach 25 Jahren. Vergessen war er dort nie. Das Buch „Puskas – Legende und Wahrheit“ vom Journalisten Tibor Hamori gehört zu den meist verkauften ungarischen Büchern aller Zeiten. 1992 kehrt er zurück in die Heimat, betreut sogar die ungarische Nationalmannschaft in vier Spielen. Mit 68 Jahren wird der fahnenflüchtige Major Ferenc Puskas symbolisch befördert. Danach gibt’s ein üppiges Festessen für den kugelrunden Oberst.
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