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Wo Zwerge wie Hähne schön singen

Missionare brachten überall auf der Welt heidnischen Völkern auch die Musik nahe, also die Kunst, harmonisch gesetzten Tönen einen Liebreiz abzugewinnen. Auf Island, knapp unterhalb des Nordpols, ist es christlichen Mönchen allerdings nur begrenzt gelungen, ihre Vorstellungen vom anständigen Wohlklang durchzusetzen. Und das lag nicht nur an den Elfen, unterirdischen wie überirdischen. Eine Weihnachtsgeschichte musikalischer Bodenständigkeit von Wolfgang Müller

Zuerst zog nur das Heulen des Windes über das karge Land. Der weiseste der Asen, Odin, trägt die Erinnerung an dieses Geräusch in seinem altenglischen Beinamen Ómi. Es heißt: Geheul des Windes. Dazwischen sangen Elfen und Zwerge, rumorten Eis- und Feuerriesen. Noch waren sie ungehört. Und im Wasser girrten die Meermännlein.

Dann, Mitte des 6. Jahrhunderts, kam der irische Abt Brendan, einer der ersten Besucher Islands, der von der noch unbesiedelten Polarinsel berichtete. Die Luft, so der Abt, sei erfüllt von Donner und feurigen Wurfgeschossen, hässliche Teufel schürten gewaltige, lärmende Schmiedefeuer. Trotz dieser wenig einladenden Beschreibung der örtlichen Gegebenheiten ließen sich um das Jahr 800 irische Einsiedlermönche auf der damals gelegentlich Thule genannten Insel nieder. Um zu meditieren, zu beten und natürlich auch christliche Pslamen zu singen.

Sie blieben nicht lange. Als sich im Jahr 870 die ersten Wikinger aus Norwegen, Schottland, den Hebriden und den Orkneys auf Island ansiedelten, verließen die von ihnen papar („Pfaffen“) genannten Iren die Insel und ließen nur ein paar Bücher, Krummstäbe und Glocken zurück. Die neuen Siedler brachten ihre Kultur, ihre Sprache und Musik mit. Und wohl auch einige keltische Sklaven. Während die altisländische Literatur – die Edda, die Sagas und „Fachbücher“ – mit der isländischen Phonetik allgemein vertraut sind, existieren nur sehr spärliche Informationen über die Musik.

Magische Formeln und Zauberlieder wurden gesungen, doch wie, darüber kann nur weitschweifend spekuliert werden. Der heidnische Zauberakt selbst nannte sich galdur, was von „gala“ stammt, der Bezeichnung für Schreien und Singen. Heute, im Neuisländischen, steht es für Hahnengekrähe, im Norwegischen für verrückt sein. Vermutlich wurden auch die stabreimenden Lieder der Edda sangesmäßig dargeboten.

Im Jahr 1990 hat sich der Gründer der heidnischen Glaubensgemeinschaft, der Bauer Sveinbjörn Beinteinsson, daran gemacht, den Schöpfungsmythos aus der Völuspá, den Weissagungen der Seherin, mit herrlich verknarzter Brummelstimme zu intonieren und das Resultat als CD zu veröffentlichen. Sehr frei und unvergleichlich. So ähnlich hört sich vermutlich auch Zwergengesang an. Diese Erdbewohner singen bekanntlich besonders gerne, wenngleich auch nicht so hübsch wie die Ljúflingar, die Lieblinge, eine unterirdisch lebende Elfenart, deren Aufgabe es ist, die Erhaltung der alten Töne zu überwachen. Wie alle Naturgeister sind sie schönem Gesang und Instrumentenspiel ausgesprochen zugeneigt.In der Saga von Thorfinnur karlsefni finden wir die begnadete Sängerin Gudridur, die sich zuerst etwas unwillig – „denn ich bin Christin“ – zu den anderen, noch heidnischen Frauen im Halbkreis um einen Zauberhügel stellt, um ein Lied zu singen: Sie tat dies so schön, dass die Anwesenden glaubten, nie ein schöneres gehört zu haben. Im Gefolge einer Wahrsagerin befindet sich, so berichtet die Örvar-Oddur-Saga, ein gemischter Chor: fünfzehn Frauen, fünfzehn Männer, betörende Zauberlieder vortragend. Ob dazu die Naturtöne der lúdrar, Luren, erklangen, die zur Zeit der Besiedlung über zweitausend Jahre alt waren und nach den Vorstellungen gewisser Germanomanen in derlei Kulthandlungen unabdinglich waren, gilt als unwahrscheinlich.

Islands bekanntester zeitgenössischer Komponist Jón Leifs (1900–1968) jedenfalls arbeitete sie unter anderem in seine Kompositionen ein, mit denen er den Neubeginn „urnordischer Musikschöpfung“ einleiten wollte. Das gefiel natürlich in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus. In der Zeitung der Islandfreunde von 1935 finden wir den Text einer Ansprache von Jón Leifs anlässlich der Nordischen Filmtage, in der er Wikinger und nordische Heldenlieder preist, von Islands Blut und Boden spricht und mit „Heil Deutschland!“ endet.

Ob das eine subversive Handlung war, wie es heute von manchen Verehrern des Künstlers lieber gesehen wird, ist sehr zu bezweifeln. Auf jeden Fall ritt Leifs Ende der Zwanzigerjahre mit einen Phonographen im Gepäck im Land umher und nahm auf 65 Tonwalzen die Gesänge von Arbeitern, Fischern und Bauern auf, die noch die alten Gesangsarten kannten. Sein Interesse galt insbesondere der rímur, Reimweisen, primitiven Polyphonien mit akzentschweren Taktwechseln, und den tvísöngur, den Zwiegesängen, archaisch anmutenden, mehrstimmig vorgetragenen Quintengesängen. Hier vermutete er Zusammenhänge mit Lurenmusik: „Bemerkenswert ist das am Schluss plötzlich halb gesprochen hingehauchte ,Huuuh‘.“

Trotz heftiger Bekämpfung seitens der Kirche haben die rímur und tvísöngur im Gegensatz zu den traditionellen Volkstänzen überlebt. Vom 14. bis ins 19. Jahrhundert war Island einer der isoliertesten Orte Europas. Während dieser Zeit der Not, Naturkatastrophen und des dänischen Handelsmonopols gab es für Musik kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Rímur und tvísöng erhielten sich quasi unbeeinflusst vom musikalischen Geschehen in Europa.

Für auswärtige Besucher galt Island trotz der ausgesprochenen Sangesfreude seiner Bewohner denn auch als musikalisches Brachland. Der schwedische Reisende Uno von Troil berichtet 1772 von den für seine Ohren schrecklichen Zwiegesängen: „Ein Fremder findet hieran gleichwohl wenig Vergnügen, denn die Isländer singen überhaupt sehr schlecht, ohne Takt und ohne Annehmlichkeit, besonders da sie von den neueren Annehmlichkeiten der Musik nicht die geringste Kenntnis haben.“

Auch Konrad Keilhack, ein deutscher Geologe, war von der völligen Unmusikalität der Inselbewohner nach einigen Hörproben überzeugt. Den rímur-Vortrag nennt er in seinem Reisebericht 1885 „Knurrpause“, heißt sie eine eigenartige Tafelmusik, „laute, knurrende Töne, die man bei uns nur in zoologischen Gärten in der Raubtierabteilung zu hören bekommt“. Besonders aber schockiert ihn die darauf folgende Verabschiedung des Sängers, der bereits seine Lippen gegen ihn richtete: „Die Verabschiedung durch Kuss ist nämlich auch unter den Männern, selbst wenn sie sich kaum kennen, außerordentlich verbreitet, und wir haben gesehen, wie Jünglinge und Männer einander wie Verliebte bei Begrüßung und Abschied abküssten, ein Anblick, der wahrlich nicht schön ist.“

Die isländische Unabhängigkeitsbewegung, getragen vom Geist der Romantik, trug Mitte des vorigen Jahrhunderts dazu bei, dass deutsches Liedgut auf der Insel populär wurde. Sie verdrängten beinahe die alten rímur-Gesänge. Noch heute werden Lieder von Franz Schubert auffällig häufig im Radio gespielt.

Dass Gesang sich auf Island größter Wertschätzung erfreute, beweist auch eine Note aus den Mitteilungen der Islandfreunde aus dem Jahre 1915. Unter der Überschrift „Island und der Krieg“ weiß ein Dr. Freiherr von Jaden von einem englischen Konsul in „Spezialmission“ mit deutlich warnendem Unterton zu erzählen. Dieser, so der deutsche Patriot, habe sich rasch und geschickt Eintritt in die maßgebenden Kreise Reykjavíks durch systematische Stimmungsmache verschafft. Das habe nur deshalb so gut funktioniert, „da Mr. Cable gut tanzt und musikalisch ist, er singt für einen Engländer erstaunlich gut“.

Doch schon wenige Jahre später, in der Zeit der Inflation, tauchen einige deutsche Kaffeehausmusiker in Reykjavík auf und betören die Jugend mit ihrem Spiel. Pikiert spricht ein Dr. Mohr in seinem 1925 erschienenen Reisebuch über Jazzmusik, die ein stadtbekanntes deutsches Trio im Hotel dargeboten habe: „Das war einmal Musik nach dem Herzen – nein: nach den unempfindlichen Ohren der Isländer.“

Und schließlich übersetzte er die Liebesode eines jungen isländischen Dichters, die dieser an den Geiger jenes Trios richtete: „Spiele, Göttlicher, ja spiele! / Töne zaubre, hell und rein! – / beug’ mich preisend dem Gefühle, / Sklave deiner Kunst zu sein!“

Das offene Ohr der Isländer und ihre Eigenwilligkeit hat sie zum Glück nicht im Sklavenstatus verharren lassen. Neben dem Weltstar Björk, dem Popsänger Pall Óskar Hjálmtýsson, der Sängerin Móa, Emiliana Torrini, der Multimediaband Gus Gus, den Elektronikformation Stillusteyppa und dem Technostar Thorhallur Skúlason haben sie noch vor der Jahrtausendwende mit Selma Björnsdóttir nur sehr knapp den Sieg beim Grand Prix Eurovision in Jerusalem verfehlt. Isländische Opernsänger und -sängerinnen sind zu hören in Häusern in Europa und Amerika, darunter der weltberühmte Tenor Kristján Johannesson.

In der Sönghellir, der Sangeshöhle unterhalb des Snæfellsjökull-Gletschers, singt selbst die Höhle mit: Einen Ruf oder Schrei erwidern das konkave Gewölbe und die merkwürdigen abgeschliffenen röhrenartigen Einbuchtungen mit merkwürdigem Brummen und starken Verdoppelungen, klirrendem Hall oder lang andauernden Echos. Dvergamál nennen das die Isländer – das Echo ist der Zwerge Sprache.

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