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Giftgas und andere Wolken über Grosny

Russen und Tschetschenen liefern sich einen Informationskrieg

Es war bereits der dritte Giftgasalarm, den das russische Truppenkommando am frühen Sonntag Morgen in Grosny auslöste. Der Vorwurf der Russen ist jedes Mal der gleiche. Die tschetschenischen Verteidiger werden beschuldigt, bewusst angelegte Tanks mit giftigen Chemikalien zu sprengen, um dadurch das Vordringen der russischen Truppen zu verhindern.

Nach russischen Angaben handelt es sich dabei entweder um Chlor, um Ammoniak oder eine Mischung aus beidem. Als Beweis verbreitet „Rosinformzentr“, das Moskauer Pressezentrum der russischen Nordkaukasustruppen, Filmaufnahmen, auf denen angeblich schwer über der Stadt hängende gelblich-grüne Chlorwolken zu erkennen sein sollen. Doch auf dem Fernsehschirm war wenig mehr als ein dunstiger Blick über Grosnyer Vororte zu sehen. Jedes Mal erklären die Russen, keiner ihrer Soldaten sei durch das angebliche Gas verletzt worden, es gebe aber Grund, sich um die Zivilbevölkerung zu sorgen.

Unabhängige Bestätigungen dieser Anschuldigungen gab es in keinem Fall. Die Rebellen weisen die Giftgasvorwürfe zurück und beschuldigen ihrerseits pauschal die russischen Truppen, Chemiewaffen einzusetzen. Das alles scheint eher Teil eines erbittert geführten Informationskrieges zu sein. Verschweigen, Lügen und Vertuschen sind die strategischen Leitlinien dieses Krieges. Auch Flüchtlinge und noch in Grosny ausharrende Zivilisten sind den Informationskriegern beider Seiten wenig mehr als formbares Material in ihren Computern.

Nach unterschiedlichen Angaben sollen sich noch bis zu 40.000 Zivilisten in Grosny befinden. Zum großen Teil handelt es sich um alte Menschen, meist Russen, die außerhalb Tschetscheniens keine Verwandten haben. Zwar öffneten die russischen Truppen noch vor Weihnachten unter großem Medienaufwand einige so genannte Fluchtkorridore. Doch hatten sich die Menschen durch einige Kilometer umkämpftes Gebiet schlagen müssen, um zu ihnen zu gelangen. Auf dem Weg dorthin seien sie beschossen worden, berichteten die wenigen Todesmutigen, die sich dennoch aufgemacht hatten. Unklar bleibt auch hier, wer auf wen schießt. Die Russen beschuldigen die Tschetschenen, die Zivilisten nicht aus Grosny herauszulassen, um sie als „lebende Schuzuschilde“ zu benutzen.

Kaum ein Tag vergeht auch ohne gute und laut verkündete Taten der russischen Regierung in den von den Russen kontrollierten Gebieten. Am Montag ließ es sich der kommissarische Prasident Wladimir Putin nicht nehmen, höchstpersonlich die Lieferung von „Lehrbüchern und Medikamenten“ in die drei am stärksten zerstörten, bereits „befreiten“ tschetschenischen Landkreise anzuordnen. Jens Siegert, Moskau

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