: Großbritannien lässt Naziverbrecher laufen
Der mutmaßliche lettische Kriegsverbrecher Konrad Kalejs, vor kurzem in einem englischen Altersheim entdeckt, wird nicht angeklagt, sondern „ausgewiesen“. Damit darf er unbehelligt nach Australien ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – Ein 86-jähriger Lette, dem Massenmorde im Zweiten Weltkrieg vorgeworfen werden, darf Großbritannien trotz breiten Protestes unbehelligt verlassen und entgeht damit höchstwahrscheinlich einem Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der britische Innenminister Jack Straw unterschrieb am Montagnachmittag einen Ausweisungsbefehl gegen Konrad Kalejs, der nach Angaben des Simon-Wiesenthal-Zentrums während des Zweiten Weltkriegs hochrangiges Mitglied in einer Hilfstruppe der SS in Lettland war. Kalejs, dessen Existenz in Großbritannien vor einer Woche aufgedeckt wurde, wird vermutlich morgen nach Australien fliegen.
Die Ausweisung ist ein formaler Akt, denn Kalejs hatte bereits am Wochenende seinen Wunsch geäußert, das Land zu verlassen. Bis letzte Woche lebte er unerkannt unter dem Namen „Viktors Kalnis“ in der mittelenglischen Kleinstadt Catthorpe in einem Altenheim der lettischen Exilorganisation „Latvian Welfare Fund“. Erst nach Berichten in der britischen Presse nahm die englische Polizei am Mittwoch letzter Woche Ermittlungen gegen Kalejs auf. Nun erklärte Innenminister Straw, die Polizei habe befunden, „dass es gegenwärtig keine Basis für eine Festnahme gibt“. Kalejs’ Ausweisung hingegen sei „dem öffentlichen Wohl dienlich“.
Kalejs hat bereits Ausweisungen aus den USA und Kanada hinter sich. Bei seiner Ausweisung aus den USA 1994 wurde detailliertes Belastungsmaterial gegen ihn publik. Demnach schloss sich der 1913 geborene Lette nach dem deutschen Einmarsch in seiner Heimat 1941 der hitlertreuen „Lettischen Hilfspolizei“ ein, nach ihrem Anführer Viktor Arajs auch „Arajs-Kommando“ genannt. Die Einheit arbeitete der SS zu, erschoss Juden und Partisanen und bewachte das KZ Salaspils. Insgesamt soll sie 30.000 Tote auf dem Gewissen haben. Zwischen Juli 1941 und Juni 1944 war Kalejs nach Angaben des Historikers Raul Hilberg einer von sechs oder sieben Kommandanten der Einheit. Kommandeur Arajs wurde 1979 in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt.
1945, nach dem Krieg, zog Kalejs nach Dänemark und fünf Jahre später nach Australien, wo er 1957 eingebürgert wurde. 1959 zog er in die USA und war ein erfolgreicher Geschäftsmann, bis seine Vergangenheit entdeckt wurde. Ein US-Gericht befand 1994, Kalejs habe bei der Ermordung tausender Unschuldiger eine zentrale Rolle gespielt, und schickte ihn nach Australien zurück. 1995 reiste er nach Kanada, wurde aber auch dort 1997 abgeschoben. Im Juni oder September 1999 – die Angaben variieren – reiste er in Großbritannien ein. Kalejs hat alle Anschuldigungen immer zurückgewiesen.
Seit 1991 hat Großbritannien ein Gesetz zur Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern. Erster Verurteilter war im letzten Jahr der Weißrusse Anton Sawoniuk. So löste die jetzige Entscheidung Straws mannigfaltige Kritik aus: Die Tories fordern eine öffentliche Erklärung des Innenministers, und Rabbi Jonathan Romain, Sprecher der reformierten Synagogen in Großbritannien, sagte: „In einer Zeit, zu der Kriegsverbrecher in Kosovo und Ruanda vor Gericht gestellt werden, hätte eine Anklageerhebung gegen Kalejs in Großbritannien eine mächtige Botschaft in die Welt geschickt.“
Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum wies darauf hin, dass Australien seine Ermittlungseinheit gegen Nazi-Kriegsverbrecher 1991 aufgelöst hat. Kalejs sei dabei, ins Guinness-Buch der Rekorde als meistdeportierter Kriegsverbrecher der Geschichte einzugehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen