Ivan Ivanji wurde im KZ zur Arbeit gezwungen. Die Debatte über Entschädigungen löst bei ihm sehr persönliche Assoziationen aus: Leid verjährt nicht
Die Bundesrepublik Deutschland will also gemeinsam mit der deutschen Industrie zehn Milliarden deutsche Mark an ehemalige Zwangsarbeiter zahlen, die auf preußisch korrekte Art in mehrere Kategorien aufgeteilt werden. Wie schön! Warum graust mir trotzdem vor deutschen „Kategorien“, selbst wenn ich in die höchste und bestdotierte kommen würde?
Fragt mich jemand, ob ich 5.000 Mark gebrauchen könnte? Oder sogar 15.000? Bitte, wer nicht? Obwohl ich schon 71 Jahre alt bin, hätte ich für den Zunder schon noch einige Verwendung.
Ob ich es verdient habe? Darüber ließe sich streiten. Ich habe, als ich fünfzehn Jahre alt und KZ-Häftling war, fünfzig Kilogramm schwere Zementsäcke schleppen müssen. Sonst hätte man mich totgeschlagen. Ich gebrauche die Worte, die am einfachsten sind, um die Lage zu beschreiben, nicht um Eindruck zu schinden. Meine Frau sagt, das ist der Grund für meinen Ischias. Kann sein, muss aber nicht. Auch andere Leute in meinem Alter leiden an verschiedenen Krankheiten. Und der Professor, der mich behandelte, sagte, ich sei zu dick, ich solle abnehmen, ich sei zu schwer für mein armes Rückgrat, daher der Bandscheibenschaden.
Geschleppt habe ich diese Zementsäcke, weil für die Brabag in Magdeburg Betonbunker, in die die Produktion verlegt werden sollte, gebaut wurden. Brabag bedeutete Braunkohle-Benzin-AG. Sie gehörte zu den Hermann-Göring-Werken. Später habe ich im schönen thüringischen Ort Niederorschel Flugzeugflügel für die Firma Junkers gebaut. Und dann bei Langenstein, in der Nähe von Halberstadt, Tunnel in einen Berg gebohrt, der SS-Kommandant wollte einen jeden Meter mit einem Häftlingsleben bezahlen.
Sollen nur Zwangsarbeiter, die für die deutsche Kriegswirtschaft geschuftet haben, ohne Rücksicht darauf, für welchen Betrieb sie das taten, entschädigt werden? Das verstehe ich noch immer nicht. Oder steht das noch gar nicht fest? Der Entwurf des Gesetzes für eine Stiftung des öffentlichen Rechts „... zur Gewährung von Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und von Arisierung und anderem Unrecht aus der Zeit des Nationalismus Betroffenen ...“ ist für juristische Laien schwer verständlich.
Für Deutschland hat über den Sachverhalt der Graf Lambsdorff verhandelt. Mit dem habe ich einmal über andere Fragen ein Interview gemacht. Das ist der Edelmann, der die Gesetze seines Landes umgangen hat, um seiner Partei illegal Geld zuzuschanzen. Diese Behauptung ist gerichtsnotorisch. Und ich habe gelesen, er soll vor sehr vielen Jahren antisemitische Erklärungen gemacht haben. Ich könnte sie nicht zitieren. Jedenfalls ist mir der Herr Graf nicht sympathisch.
Früher hat sich Graf Lambsdorff nie mit diesen Fragen beschäftigt. Er soll sich aber als fleißiger Mensch gut in die Materie eingearbeitet haben. Es gibt in Deutschland jedoch einen Politiker, der sich viele Jahre über den Verein „Gegen das Vergessen“ mit dem Problem beschäftigt hat, Hans Jochen Vogel. Der war Bundesjustizminister, auch Vorsitzender der SPD. Er hätte sich nicht erst einarbeiten müssen, er hat sogar früher einen Gesetzesvorschlag für die Entschädigung ausgearbeitet. Herrn Vogel kenne ich auch. Er ist mir sehr sympathisch.
Natürlich haben meine Sympathien oder Antipathien nichts damit zu tun, wer für Deutschland über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter verhandelt. Aber interessieren dafür darf sich jedoch auch unsereins, nicht wahr? Warum hat ein SPD-Kanzler nicht den SPD-Politiker Vogel, der etwas von der Sache versteht, zum Beauftragten Deutschlands ernannt, sondern den liberalen Grafen, der keine absolut saubere Weste besitzt? Und sich erst einarbeiten musste, der fleißige Mensch.
Apropos Graf Lambsdorff. Ist er für seine Arbeit für die Bundesrepublik Deutschland entschädigt worden? Mindestens für den Arbeitsaufwand? Oder sind ihm nur die Kosten, die ihm entstanden sind, rückerstattet worden? In welcher Höhe? Wer hat das beschlossen? Aus welchen Mitteln? Das fällt mir ein, weil ich annehme, dass die meist amerikanischen Rechtsanwälte, die für mich und im Namen von meinesgleichen gearbeitet haben, sicher ein Honorar beanspruchen werden. Darüber war einiges Unerfreuliches zu lesen, über Lambsdorff habe ich nichts Entsprechendes gefunden.
Verhandelt für mich haben amerikanische Advokaten. Da zitiere ich als Wahlösterreicher eine österreichische Operette: „Ja mit diesen Advokaten ist verlorn man und verraten ...“ Also, ich jedenfalls habe diese Rechtsanwälte nicht engagiert. Clinton, den ich wegen seiner Luftangriffe auf mein Belgrad hasse, hat mit Bundeskanzler Schröder telefoniert, das wird dazu beigetragen haben, dass ich vielleicht meine 5.000 oder sogar 15.000 D-Mark bekomme. Vielleicht. Was freilich der Clinton damit am Hut hat, verstehe ich erst recht nicht. Im Gesetzentwurf jedenfalls steht: „Die Auszahlung der Stiftungsmittel erfolgt nach dem Inkrafttreten des deutsch-amerikanischen Regierungsabkommens...“ Einige Leidensgenossen, die für diese Entschädigung in Frage kommen, sind amerikanische Staatsbürger, aber die Mehrheit sicher nicht.
Was mir klar zu sein scheint ist folgendes. Die Deutschen – pardon, so vereinfacht gestatte ich mir es nicht zu sagen –, die deutsche Industrie und die deutsche Regierung würden als Entschädigung für die Zwangsarbeiter nichts zahlen, wenn sie nicht Angst vor dem amerikanischen Boykott ihrer Waren hätten. Ihrer Limousinen Marke Mercedes oder BMW oder Porsche ... Oder sehe ich das falsch? Ich versuche entsprechende Zeitungsartikel zu lesen. Falls ich nicht alles verstehe, liegt es vielleicht daran, dass sie absichtlich unklar formuliert sind.
Im vergangenen Jahr, im letzten des vergangenen Jahrtausends, wurde ich mehrmals von Institutionen in Deutschland gefragt, was ich von den Gedenkstätten und Denkmälern für den Holocaust halte. Ich habe erklärt, dass mich zwar interessiert, wie die heutigen Deutschen das machen wollen, aber dass es mich im Grunde genommen nichts angeht. Ich brauche keine Gedenkstätten für Konzentrationslager, ich nicht! Die wenigen Jahre oder Monate, die ich noch zu leben habe, werde ich mich gut auch ohne sie erinnern können, selbst wenn der Grund dafür nur mein Ischias wäre.
So weit ich informiert bin, erhalten die Offiziere der SS, falls sie nicht als Kriegsverbrecher hingerichtet worden sind, Renten. Einige von ihnen habe ich kennen lernen dürfen, rüstige alte Herren. Wenn sie Jahrzehnte über den Krieg hinaus gelebt haben, sind das insgesamt beträchtliche Summen. Hat das mit dem Problem der Entschädigung der Zwangsarbeiter etwas zu tun oder gar nicht? Eine weitere Frage: Wie steht es zum Beispiel mit einem deutschen Homosexuellen oder Bibelforscher, der als KZ-Häftling Zwangsarbeit geleistet hat? Wenn von solchen Problemen die Rede ist, denkt immer jedermann an Juden, bestenfalls an Roma und Sinti. Zwangsarbeit für Nazi-Deutschland aber haben viele andere ebenfalls geleistet. Das nimmt der Gesetzentwurf, den ich zitiere, sehr wohl zur Kenntnis, nicht jedoch die Diskussion darüber, insbesondere die wenigen Wortmeldungen über die Juden nicht, die angeblich hier wieder einmal nur „abzocken wollen“.
Das bringt mich zur letzten Frage, die ich stellen will. Was geht die heute lebenden und Steuer zahlenden Deutschen diese alte Geschichte an? Haben jene von ihnen Recht, die glauben, man hätte längst einen „Schlussstrich“ ziehen müssen? Ehrlich, das weiß ich nicht. Selbst wenn ich „Nutznießer“ von „Leistungen“ wäre. Mich geht es nichts an, ob davon der Import von Mercedes und BMW in die USA abhängt. Ob das die heutigen Deutschen etwas angeht, ist ihre Sache. Eine moralische, keine juristische Angelegenheit. Da es keine Volksbefragung geben wird, hat die gewählte Vertretung der Deutschen, der Bundestag, der ein entsprechendes Gesetz verabschieden muss, das letzte Wort.
Ich finde die Art und Weise, wie man sich der Lösung der Problematik nähert – fast hätte ich Endlösung gesagt, aber dieses Wort kann man wohl auf Deutsch nicht mehr aussprechen oder niederschreiben –, unappetitlich, fast widerlich. Im Laufe des mehr als halben Jahrhunderts seit dem Ende des Weltkrieges hat es so viel Schmerz und Pein gegeben, dass man sich wirklich fragen muss, ob unsere Qualen noch relevant sind. Meine Antwort lautet: Leid verjährt nicht und ist unteilbar. Genauso wenig wie Liebe. Ivan Ivanji
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