Schlagloch: Fröhliche Barbarei
Von Mathias Greffrath
„Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm.“ Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“
Fin-de-Siècle-Feuerwerk am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Noch einmal fackelt Castorf ab, mit einer Collage aus Camus’ „Caligula“ und Batailles „Obszönem Werk“. Noch einmal bleibt nichts übrig. Selbst vom Nichts nicht. „Nichts. Immer noch nichts“ – zum philosophischen Großsubstantiv sitzt die Gattin des mörderisch-existenzialistischen Kaisers auf einem Sanitärporzellan und drückt, erfolglos. Aber ihr Stuhlgang ist ebenso kraftlos wie der Widerstandswille der tyrannisierten Bürger. Auch Batailles revoltierende Sexualität schafft es nicht mehr, die Welt der Berechnung zu sprengen, wenn sie auf die Pipi-und-Kacka-Spiele antiautoritärer Kinder reduziert wird.
Nach dem Jahrhundert von Revolutionen und Reklame ist der Größenwahn, der den Mond besitzen will, zum Alltag geworden, die Freiheit zum Umsatzgleitmittel, die Revolte ohne Erfolgsaussichten, also ohne Schick und Größe, die Sinnlichkeit kommerzialisiert und deshalb ohne Sprengkraft. Aber dank wachsender Freizeit dürfen wir alle, wie es uns gefällt, noch einmal in einer Kindergartenwelt mit Muttis Klamotten und Papis Hüten die Tragödien des Jahrhunderts aufführen, seine intellektuellen Ekstasen nachchargieren. Ein wenig gelangweilt posieren die Kleinen auf Castorfs Bühne noch einmal als Nazis, skandieren sie das Spanienkämpfer-Pathos, tanzen Tango wie ihre Soziologeneltern. Ein wenig verzweifeln die zitierwütigen Kinder erst, als sie am Ende merken: Auch sie können sich nur noch wiederholen. „Dann ziehe ich mich eben nackt aus“, brüllt Caligula, mutiert zum Schauspieler Bernhard Schütz und windet sich nackt in Krämpfen auf dem Bühnenboden, brüllt trotzig: „So haben wir das doch auch in Basel schon gemacht ...“ Und so weiter und so weiter, Reprisen abgelegter Philosophien und Posen, ad infinitum, bis zum Erbrechen, das sich auch nicht mehr recht einstellen will.
Eine Phänomenologie der Enttäuschung, zum Kichern komisch – for the happy few. Aber keiner kichert – und keiner protestiert im Publikum. Die Kulturträger nicht, weil sie immer noch gut von toten Traditionen leben, die hier entsorgt werden. Die politischen Idealisten nicht, weil sie der Analyse zustimmen, aber süchtig nach Positivem sind. Die von der PDS immerhin gehen, leise, weil der Tod der Spanienkämpfer in einer Reihe mit anderen Rebellionsreliquien geschändet wird; die Schwulen lachen nicht, weil die sexuelle Präferenz, ja selbst die kürzlich noch perverse Neigung auf eine Kinderei neben anderen reduziert werden und fröhlich alle identitätspolitische Größe, Tragik und Würde verlieren. Und dann die schwer bezifferbare Gruppe der anderen, die nicht lachen, nicht getroffen werden, nicht pfeifen, weil sie die Posen und Philosopheme gar nicht erst verdaut haben, die da oben lustvoll ausgeschissen werden, und sich deshalb langweilen. Keiner protestiert mehr und keiner lacht – weil keiner richtig abräumen mag. Weil jeder noch was zum Verlieren hat – oder schon in der Zukunft gelandet ist.
Am Schluss sitzen acht Schauspieler im Kreis wie Singe- und Selbsterfahrungsgruppe. Und der eben noch den Caligula spielte, sagt so etwas wie: „Die Sonne unterhält die Erde mit einem Überschuss an Energie; sie macht es möglich, dass jeder von uns mehr Energie verausgaben kann, für sich, für die Lust, für andere, als er braucht, um nur sein Leben zu fristen.“ Dann singen die sechs abgeschminkten Jahrhundertclowns zur scheppernden Klampfe „Una fiesta sui prati“ und blicken im Probenlicht unbeholfen anmacherisch ins Publikum. Und jetzt lachen die Leute, aber irgendwie finden sie diese ästhetische Armut peinlich und rätselhaft.
„Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingeben müssen“, schrieb Walter Benjamin l931 in der Frankfurter Zeitung in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel „Erfahrung und Armut“. Die Menschen seien zu Barbaren geworden, weil keine gelebte Erfahrung sie mehr mit den Generationen vor ihnen, mit der Geschichte ihrer Familie, ihrer Klasse, ihrer Nation verbinde, keine Tradition, keine Religion, kein Betrieb sie mehr stütze.
Der Begriff des „Barbaren“ wird wieder sinnvoll; nach dem Ende des Weltbürgerkriegs mit seiner klaren Zugehörigkeitsregel: Right or wrong, mein Weltsystem; nach dem Ende der Arbeitsgesellschaft, die der einzige Garant gewaltloser Zivilisiertheit und stabiler Identitäten ist. Er macht weltpolitisch Sinn: so wie Jean-Christoph Rufin ihn in seinem zu früh geschriebenen und schon vergessenen Buch über „Das Reich und die Neuen Barbaren“ (Volk und Welt) auf diejenigen anwendet, die in den neuerlichen weißen Flecken der Unbildung, des Hungers, der Arbeitslosigkeit leben. Er macht innenpolitisch Sinn: etwa in Peter Glotz’ fälliger Feststellung, dass das von Arbeit und Mitbestimmung ausgeschlossene Drittel der Gesellschaft demnächst das Zivilisationsmodell des „beschleunigten Kapitalismus“ fundamental in Frage stellen werde: Kulturkampf vor der Tür.
2000 vorbei und immer noch kein Neuanfang in Sicht? Na, mal sehen. Mit einem semantischen Taschenspielertrick dreht sich der anarchistische Illusionist Benjamin l931, vor der tödlichen Krise der Demokratie, um 180 Grad und führt einen „positiven Begriff des Barbarentums“ ein. Der Barbar, von allen Bindungen befreit, könne nicht anders als „von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; reinen Tisch zu machen; sich vom hergebrachten, feierlichen und mit allen Opfergaben der Vergangenheit geschmückten Menschenbilde ab-, um sich dem nackten Zeitgenossen zuzuwenden, der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt“.
Siebzig Jahre nach Benjamin haben wir zu gewärtigen, dass, am Ende aller Individualisierung und Kommerzialisierung, kräftige Rufe nach Erlösung erschallen werden: durch Liebe, durch Religion, durch Mutation, durch Autorität. Dass ein furchtbarer Ernst über uns kommen wird, wenn die Party vorbei ist. Und der positive Barbar? Einstweilen hat er nichts Feuilletonheroisches an sich, wie noch bei Benjamin, der über die Bauhaus-Radikalen schrieb und an die Kommunisten dachte, „die Männer, die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht haben und es auf Einsicht und Verzicht begründet haben“. Einstweilen treten die Barbaren bescheiden auf, warm-ironisch und mit einem Pathos, das sich nur aus der unmittelbaren Gemeinschaft speist. So wie bei Subcomandante Marcos. Oder wie bei diesen acht Schauspielern auf der Bühne zwischen den Jahrhunderten: Religionslos, klassenlos, heimatlos lassen sie eine Lambrusco-Flasche kreisen und grölen „Una fIesta sui prati“. Dilettantisch – aber Dilettanten sind ja: Liebhaber, solche also, die Wärme wichtiger finden als Leistung und Gemeinschaft wichtiger als Sinn. Ganz klein und bleich saßen sie im Saallicht, Neugeborene dieses Jahrtausends. Und niemand sang mit. Warum nicht? Weil so etwas uns, die wir da im Saal saßen, nicht mehr passieren kann? Weil erst die Generation unmittelbar nach uns lernen muss, sich die Barbarei – das Leben außerhalb der Geldzivilisation – als einen lebenswerten Zustand vorzustellen?
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