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Italiens „Zweite Republik“ am Ende: Korrupte ehemalige Machthaber werden nicht mehr verfolgt, alte Linke biedern sich anVorwärts in die Vergangenheit

Die linksradikalenBewegungen weigern sich, ihre Geschichteaufzuarbeiten

Fast zwölf Jahre laufen die Verfahren gegen die Ex-Führung der linksradikalen Studenten- und Arbeiterorganisation Lotta continua (LC). Es geht um die Ermordung des Polizeikommissars Luigi Calabresi im Jahre 1972 – und ein Ende der Prozesse ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Es wird eine weitere Revision in Italien geben, dann vielleicht noch den Gang zum Europäischen Gerichtshof.

Derweil stehen sich Solidaritätsgruppen und Schuldverfechter genauso unversöhnlich gegenüber wie 1988, als Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi zum ersten Mal verhaftet wurden. Große Kaliber wie der Nobelpreisträger Dario Fo oder der Historiker Carlo Ginzburg kämpfen an der Seite der ehemaligen LC-Führer, flankiert von vielen ausländischen Freunden wie Daniel Cohn-Bendit oder Klaus Wagenbach, aber auch den Sprachrohren des rechten Medienzaren Silvio Berlusconi, in dessen Journalen Sofri schreibt. Für einen Schuldspruch – jeweils 22 Jahre Haft sollen die drei verbüßen – optieren neben faschistischen Uraltfeinden der Linken auch liberale Journalisten und sonst als besonnen geltende Strafverfolger.

Dabei ist ein klares Urteil selbst für jene, die den Prozess minutiös verfolgt haben, kaum möglich. Fest steht: Der Fall Lotta continua hat große Ähnlichkeit mit den beiden Verfahren gegen den siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti. Im ersten ging es um die 1978 erfolgte Ermordung eines Journalisten, der dabei war, böse Enthüllungen über das Machtsystem des christdemokratischen Politikers zu veröffentlichen, im zweiten um die Förderung einer mafiosen Vereinigung. Im Prozess gegen Sofri wie in dem gegen Andreotti kamen die Anklagen von Kronzeugen, in Italien pentiti, Reuige, genannt; in beiden Fällen widersprachen sich deren Aussagen immer wieder, waren die vom Gesetz geforderten „objektiven Wahrheitsbeweise“ der Aussagen eher dünn. Und in beiden Fällen war die Öffentlichkeit in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite die innocentisti, die auf Unschuld plädierten, auf der anderen die colpevolisti, die die Angeklagten für überführt hielten.

Aber: Andreotti und die sechs Mitangeklagten – darunter fünf notorische Mafiosi – wurden freigesprochen, die LC-Genossen dagegen verurteilt. Und hier wird die Angelegenheit weit über die rein juristische Fragwürdigkeit hinaus zu einem Paradigma für das Italien des beginnenden neuen Jahrhunderts. Die Rechtsprechung ist – zum ersten Mal seit der radikalen Wende Anfang der 90er-Jahre, als mutige Staatsanwälte per Korruptionsermittlung die herrschende Politelite aushebelten – wieder zur unverhüllten Klassenjustiz geworden. Der Politiker wird freigesprochen, obwohl gegen ihn eine ganze Schar von pentiti ausgesagt hat – weil es angeblich noch „ein Quäntchen Unsicherheit“ an seiner Schuld gab; die LC-Leute werden verurteilt, obwohl nur ein höchst fragwürdiger Zeuge gegen sie ausgesagt hat, und das erst viele Jahre nach dem Delikt.

Beide Fälle sind Beispiele für die Rückkehr Italiens zu Verhältnissen, wie sie die so genannte Erste Republik gekennzeichnet hatten – jene fast fünf Jahrzehnte, als die italienische Politik von den Christdemokraten und, seit den 70er-Jahren, auch von den Sozialisten beherrscht wurde. Dass diese Zeit nicht zu Gunsten einer transparenteren „Zweiten Republik“ überwunden wurde, zeigt sich auch in der immer groteskeren Einfalt der Linken und speziell vieler Freunde und selbst ernannter Verteidiger der ehemaligen LC-Chefs. Um eine möglichst breite Unterstützung für einen Freispruch zu erhalten, haben sie sich mit dem palazzo, den Mächtigen der „Ersten Republik“, verbündet. Bisheriger Höhepunkt ist der just nach dem letzten Sofri-Urteil lancierte Amnestie-Appell des linksdemokratischen Oberbürgermeisters von Venedig, Massimo Cacciari. Der fordert nicht nur eine Tilgung der Strafen wegen terroristischer Taten, sondern auch der Verurteilungen wegen Korruption.

Dass sich Anbiederung an die Mächtigen für die Linke noch nie gelohnt hat, will offenbar nicht in die linken Köpfe. Welches Interesse könnte der palazzo denn haben, den ehemaligen Pfuiteufelchen aus der Terrorismusszene und der außerparlamentarischen Linken entgegenzukommen, wo doch die unumstritten schillerndste Figur der alten Democrazia Cristiana, Giulio Andreotti, auch so freigesprochen wurde? Die Folge der linken Anbiederung wird eine neue Unantastbarkeit der politischen Elite sein – ohne nennenswerten Gewinn für jene, die ihr im Namen einer gesellschaftlichen Veränderung Paroli geboten haben. Die Erklärung des eben verstorbenen, rechtskräftig zu mehr als zehn Jahren verurteilten Ex-PSI-Chefs und Ministerpräsidenten Bettino Craxi zum „Märtyrer“ der Strafverfolger ist nur ein Vorgeschmack auf die anstehende neue Abschottung des palazzo.

Gefördert wurde diese Entwicklung auch dadurch, dass sich im Umfeld von Sofri und der LC eine unbeugsame Abwehrfront gebildet hat, die die Aufarbeitung der Geschichte linksradikaler Bewegungen partout nicht aufnehmen will. Sofri selbst hat wohl in gleich mehreren Verfahren Zuspruch durch sein arrogantes, seine eigene Politgruppe immer wieder rechtfertigendes Auftreten vertan. Sätze wie: „Damals wurden bei uns auch furchtbare Dinge geschrieben“ oder: „Der Mord an einem Menschen ist immer eine furchtbare Angelegenheit“ klingen doch stark nach Rechtfertigung. Die ständige Wiederholung der LC-Devise „Von uns war es keiner“ hat zudem die Chance zerstört, linke Politik von linkem Aktionismus, bloßem Politspektakel oder gar reiner Politkriminalität abzugrenzen.

Die Rechtsprechung in Italien ist wieder zur unverhüllten Klassenjustiz geworden

Dabei bestand gerade im LC-Prozess die Chance, die Gründe, aber auch die schrecklichen Irrwege der damaligen Revolte zum Ausgangspunkt für eine Neudefinition linker Gesellschaftsauffassung zu machen. Diese Chance wurde nicht wahrgenommen – und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die Elite des linken Intellektualismus inzwischen zu überwiegend bedeutungslosen Sprechblasenerzeugern geworden sind, an denen die Gerichte ihre neue alte Klassenjustiz bequem vorführen können. Und zwar unabhängig davon, wie viele Ex-LC-Genossen mittlerweile Abgeordnete oder Staatssekretäre geworden sind.

Italiens Linke haben sich schon immer gern zu nützlichen Idioten der Mächtigen gemacht. Dass eine neue Linke nur dann wirklich politisch Wurzeln schlagen kann, wenn sie für radikale Sauberkeit, Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen eintritt, spricht sich unter ihnen offenbar nur sehr zögerlich herum. Und so wird die „Erste Republik“, in der sich die großen Denker und aufstrebenden Politrevoluzzer nur allzu gern in den Salons der Mächtigen vorzeigen ließen, weiter fröhliche Urständ feiern. Werner Raith

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