: „Das Brokdorf-Urteil gilt auch für Großstädte“
Der Verfassungsrechtler Ulli F. H. Rühl hält lediglich Auflagen für Demonstrationen für zulässig
taz: Herr Rühl, wie ist der Versuch von Innensenator Eckart Werthebach (CDU) zu bewerten, Demonstrationen am Brandenburger Tor einzuschränken?
Ulli F. H. Rühl: Bei der Bewertung des Demonstrationsanliegens gibt es keinen rechtlichen Spielraum. Es wäre jenseits des verfassungsrechtlich Zulässigen und Denkbaren, dass der Staat definiert, was ein wichtiges und was ein unwichtiges Anliegen ist.
Der Innensenator sagt, bei einer Demonstration für mehr Menschenrechte in Osttimor brauche er das Brandenburger Tor nicht zu sperren. Ist es überhaupt möglich, Demonstrationen nach ihrer Bedeutung zu kategorisieren?
Nein. Es gehört zum Wesensgehalt des Demonstrationsrechts, dass der Bürger entscheidet, was ein wichtiges Anliegen ist.
Hätte man der Neonazi-Demo am letzten Samstag die Auflage machen können, wegen historischer Parallen nicht durch das Brandenburger Tor zu laufen?
Bei Demonstrationen geht es häufig um politische Symbolik. Da nach dem Grundgesetz niemand wegen seiner politischen Auffassung benachteiligt werden darf, ist es zunächst auch das Recht von Rechtsgerichteten, einen symbolischen Ort für ihr Anliegen zu wählen. Das Versammlungsgesetz lässt Beschränkungen zu, dies bedarf aber einer Rechtfertigung. Es müssen gewichtige, kollidierende Rechtsgüter ins Feld geführt werden. Wenn ein vergleichbar gewichtiges Rechtsgut bedroht ist, lässt das Gesetz Beschränkungen der Versammlungsfreiheit zu. Es genügt aber nicht, dass die politische Symbolik jemandem unangenehm ist.
Werthebach bezweifelt, dass das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf Berlin übertragbar ist. Ist eine Demonstration auf der grünen Wiese anders zu bewerten als in einer Großstadt?
Das Urteil gilt im Grundsatz für die Großstadt wie für das flache Land. Der faktische Unterschied liegt darin, dass es in Berlin mehr Nutzungskonflikte gibt, zum Beispiel mit Verkehrsteilnehmern oder touristischen Interessen. Für die Abwägung der unterschiedlichen Nutzungsinteressen bietet das Versammlungsgesetz das Instrumentarium. Es lässt im Grundsatz Auflagen zu, die Ort und Zeit der Demonstration betreffen. Diese müssen aber begründet sein.
Welche stichhaltigen Gründe müsste man nennen?
Wenn es nicht als zwingend erforderlich erscheint, dass das Thema an diesem Tag oder zu einer bestimmten Tageszeit stattfindet, und gleichzeitig ein gravierendes anderes Nutzungsinteresse entgegensteht, kommt eine Auflage in Betracht.
Interview: Dorothee Winden Ulli F. H. Rühl lehrt an der Universität Bremen und ist Mitverfasser eines Kommentars zum Versammlungsrecht.
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