Kommentar: Propagandaschlacht ■ Im Kosovo-Krieg haben Nato und Serbien gelogen
In Kriegszeiten gehören Opferzahlen zum wichtigsten Material für die Propaganda beider Seiten. Das gilt besonders, wenn es sich um tote Zivilisten handelt. Für die Nato ist es bis heute von größter Bedeutung, die Zahl der zivilen Opfer ihres Luftkrieges möglichst gering erscheinen zu lassen. Während der 78 Kriegstage hing davon die Unterstützung der Regierungen und Bevölkerungen in den Bündnisstaaten wesentlich ab.
Der Umgang der Regierung in Belgrad mit der Zahl von Ziviltoten war und ist nicht weniger irreführend. In den ersten Kriegswochen wurden Opfer – zivile wie militärische – mit Rücksicht auf die Moral in der eigenen Bevölkerung noch völlig verschwiegen. Später wurde zumindest das Ausmaß heruntergelogen. Und seit Kriegsende operiert Belgrad mit diversen zivilen Opferzahlen, die allein wegen der erheblichen Bandbreite von 1.200 bis 5.000 wenig glaubwürdig wirken und nur in wenigen Fällen konkret mit Namen und Daten belegbar sind.
In dieser Situation ist die detaillierte Untersuchung, die Human Rights Watch (HRW) jetzt nach monatelangen, akribischen Recherchen vorgelegt hat, von größtem Wert. Sie unterstreicht einmal mehr die wichtige, unverzichtbare Rolle regierungsunabhängiger Organisationen bei der Beschaffung und Bewertung konfliktrelevanter Informationen. Auch wenn die HRW-Studie nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, trägt sie zur Klärung relevanter Fragen bei: Eine beträchtliche Zahl der festgestellten rund 500 Ziviltoten waren eben nicht „versehentliche“ Opfer, wie die Nato-Propaganda und das verharmlosende Unwort des Jahres vom „Kollateralschaden“ suggerieren. Tatsächlich sind die Getöteten – als Passanten auf Brücken beziehungsweise als Beschäftigte oder Bewohner von zivilen Gebäuden, die die Nato gezielt bombardierte –, wenn nicht gewollte, so doch zumindest billigend in Kauf genommene Opfer.
Die Tötung dieser Menschen war somit ein eindeutiger Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, wie HRW zu Recht unmissverständlich feststellt. Umgekehrt waren ein Teil der von Belgrad reklamierten Zivilopfer von Nato-Bomben tatsächlich Opfer serbischer Kriegsverbrechen, wie das von HRW recherchierte Beispiel der 95 Toten im Gefängnis von Dubrava belegt. Andreas Zumach
Bericht Seite 11
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