MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN ■ VON DIRK KNIPPHALS: Schmerzensmann
Kommt ein Mann zur Literaturagentin. Er schreibt Krimis. Dicke Krimis. 600 Seiten dicke Krimis, die, wenn sie nicht verkauft werden, pfundschwer bei den Buchhändlern liegen. Sex kommt in den Krimis nicht vor. Dafür dilettiert der Mann in pauschaler Gesellschaftskritik. Alles wird immer schlimmer. Keine Sozialbeziehung, die nicht in der Krise steckte. Seine Hauptfigur ist ein kränkelnder, stellenweise depressiver Kriminalkommissar mit Selbstzweifeln. Und zu guter Letzt spielt das Ganze auch noch in der schwedischen Provinz.
Was wird die Literaturagentin wohl sagen? Sie verschwenden meine Zeit? Suchen Sie sich interessantere Hauptfiguren? 200 Seiten reichen doch auch erst mal? Wenn man den Namen Henning Mankell nicht kennen würde, könnte man sich den Besuch des Mannes nicht anders als als Desaster vorstellen.
Aber weil in Wirklichkeit vieles dann doch anders läuft, ist es auch in diesem Fall natürlich doch anders gelaufen. Henning Mankell hat nicht nur einen Verleger gefunden, er trägt inzwischen nicht unerheblich zum Gesamtumsatz des deutschen Buchhandels bei. Von Madagaskar, wo er wohnt, aus betreibt er einen schwunghaften Manuskripthandel über Schweden auch nach Deutschland, und man darf inzwischen von einer Rückkehr des gehobenen Schmökers sprechen, der alle eint: Gelegenheitsleser und Intellektuelle, Pauschalreisende auf der Suche nach Urlaubslektüre und schwere Büchernarren. Henning Mankell ist derjenige Autor, auf den sich zur Zeit alle einigen können.
Wer sich diesen Erfolg erklären will, kann kaum auf Mankells Umgang mit Thrillertechniken verweisen. Natürlich operiert Mankell geschickt mit Vorgriffen und Rückblenden, Cliffhangern und Erzählperspektiven, aber das machen schließlich viele. Meine Privattheorie zur Erklärung des Phänomens ist folgende: Mankells Kommissar Wallander, dieser Schmerzensmann, funktioniert beim Lesen wie eine Art Voodoopuppe. Stellvertretend agiert er alle Zukunftssorgen und Globalisierungsängste aus, die selbst der hartgesottenste Leser irgendwie in einem stillen Winkel seines Bewusstseins hegt. Insofern wäre die Mankell-Lektüre ein kathartischer Akt: Hinterher ist man wieder fit dafür, den Anfordernissen der Gegenwart kalt ins Auge zu sehen. Aber vielleicht täusche ich mich da auch.
„Mittsommermord“ jedenfalls, das neue Erzeugnis aus der Einmannkrimimanufaktur Mankell, enthält zudem einen spannenden Täter. Er trachtet danach, glückliche Menschen zu ermorden, weil er deren Glück nicht ertragen kann. Man darf das ruhig ausplaudern, weil das Buch sowieso nicht nach dem Prinzip des Whodunit funktioniert. Sonst ist alles wie gewohnt. Nur dass Wallander nun auch noch zuckerkrank wird.
Henning Mankell: „Mittsommermord“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Zsolnay Verlag, Wien 2000, 604 Seiten, 45 DM
Mit dem Hammer
Nietzsche. Hat dieses Jahr seinen hundertsten Todestag. Am 25. August. Auch wenn der letzte feuilletonistische Großkampftermin rund um den Philosophen mit dem Hammer erst wenige Jahre her ist – auf den Oktober 1994 fiel Nietzsches 150. Geburtstag –, darf man sicher sein, dass zu diesem Datum einiges los sein wird. Was wird das wieder für ein Rühmen und Bashen werden! Während die anderen beiden Gründerfiguren des modernen Bewusstseins an Brisanz eingebüßt haben – die vor einiger Zeit versprochene Marx-Renaissance kommt nicht recht voran, und Freuds Thesen sind Allgemeingut geworden –, begleiten den Namen Nietzsche noch Wallungswerte. Es steht zu hoffen, dass sie auch die diesjährigen Jubelfeiern überstehen werden.
Im Knesebeck Verlag ist nun ein Bildband erschienen, der es erlaubt, sich schon mal ganz gelassen auf die kommenden Ereignisse einzustimmen. Verfasst wurde er von dem Chicagoer Philosophieprofessor David Farrell Krell, und in etwa funktioniert er wie eine aus dem Leim gegangene rororo-Bildmonographie. Wie bei den als Einstieg so hilfreichen Reinbeker Bändchen werden nicht allzu lange, nicht allzu komplizierte Überblickstexte geboten, die die einzelnen Lebensphasen miteinander verbinden, dazu jede Menge Selbstzeugnisse aus Nietzsches Feder und vor allem Fotos. Nur dass alles prächtiger aufgemacht ist. Auch gehobene Repräsentationsansprüche an Druckerzeugnisse erfüllt dieser Band durchaus – man kann damit, anders als mit den preiswerten rororo-Bändchen, in seinem Bücherregal renommieren.
Inhaltlich ist der Prachtband allerdings zwiespältig ausgefallen. David Farrell Krell hat sich über eine allgemeine Einführung hinaus vorgenommen, den Einfluss des jeweiligen Entstehungsortes auf das jeweilige Nietzsche-Werk nachzuweisen, und das funktioniert nicht. Wer jemals Postkarten von der italienischen Mittelmeerküste oder aus dem Engadin erhielt, weiß, dass diese Landschaften nicht nur eine nietzscheanische Stil- und Gefühlseuphorie hervorzubringen vermögen, sondern manchmal eben nur Belanglosigkeiten. Es braucht also schon mehr als eine schöne Umgebung, um einen Nietzsche-Text zu erzeugen. Dieser Band aber folgt allzu schlicht dem naiven Prinzip, das Werk eines Philosophen aus seinem Leben zu erklären. Einerseits.
Andererseits ist schön, dass der überzeugte Europäer Nietzsche vorgestellt wird, der große Reisende, der Deutschland mied und in seinen letzten bewussten Jahren zwischen den Bergen des Oberengadin und dem Mittelmeer pendelte. „Denn, wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte – jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer“, hat Nietzsche geschrieben. Da das Klischee des urdeutschen Wille-zur-Macht-Theoretikers Nietzsche noch festsitzt, kann es nicht falsch sein, an den Europäer Nietzsche zu erinnern.
David Farrell Krell: „Nietzsche – Der gute Europäer“. Aus dem Amerikanischen von Sieglinde Denzel und Susanne Naumann. Knesebeck Verlag, München 2000, 256 Seiten, 79,80 DM
Schwere Tränen
Er heißt John, und ständig laufen ihm Tränen über das Gesicht. „Es ist nicht so, dass er traurig wäre“, sagt seine Mutter, es seien nur seine Augen. Zusammen mit seiner Mutter macht John eine Kreuzfahrt übers Mittelmeer. John ist 43 Jahre alt, 180 Zentimeter groß, geistig behindert, und seine Mutter hat ihn voll im Griff. Sie zieht ihn an und aus, überwacht jeden seiner Schritte, und da sie in ihrem Leben nichts anderes mehr als ihren Sohn hat – ihr Mann ist ihr weggelaufen –, hält sie sich an ihm fest, ohne zu bemerken, welche intensiven Wahrnehmungen ihr Sohn hat. Um es zu bemerken, müsste sie einmal wirklich auf ihn achten. Was sie aber nicht tut.
„Schweres Wasser“, so heißt diese Kurzgeschichte des britischen Autors Martin Amis. Es ist die tieftraurige Geschichte eines verfehlten Lebens, einer versuchten Flucht (seitens von John) und ihres Scheiterns. Gerade auf Grund des in ihrer Oberfläche Ausgesparten oder nur Angedeuteten wirkt sie ebenso anrührend wie hoffnungslos. Und sie enthält vibrierende Sätze wie folgenden: „Die Abendsonne verlor Blut, sie verströmte es über die Flussmündung, sie wurde schwächer und schwächer, gleich unter ihnen, die Splitterchen karmesinroten Lichts rannen über das ölfleckige Wasser wie ein Quecksilberregen, der von dicken Lilien tropft. John erschauerte. Mutter lächelte ihren Sohn an.“ Man könnte heulen.
Der Erzähler Martin Amis ist in Großbritannien ein Star. Hier zu Lande hat er sich einen kleinen, aber zähen Fankreis erschrieben gerade auf Grund des erfrischenden Zynismus und der zupackenden Gehässigkeit, mit denen er in seinen Romanen seine Figuren behandelt, beispielsweise in der Literaturbetriebsgroteske „Information“. Dieses Talent zeigt Amis auch auf der erzählerischen Kurzstrecke. So gibt es in dem nun auf deutsch vorliegenden Erzählungsband „Schweres Wasser“, der im Wesentlichen Gelegenheitsarbeiten sammelt, wunderbare Satiren und ausgesuchte Gemeinheiten. Wie man etwa nun wirklich vollkommen unkorrekt über Schwule schreibt, das zeigt die Erzählung „Heteroszene“. In ihr spielt Amis durch, was passieren würde, wenn Homosexualität normal und Heterosexualität eine diskriminierte Abweichung wäre. Wer erfahren möchte, welch große humoristische Potenziale das fröhliche Thema der Onanie hat, ist mit der Erzählung „Lass zählen mich die Liebe“ bestens bedient. (Neben sexuellen Themen kommt selbstverständlich auch die Künstlerszene nicht zu kurz.)
Aber es gibt eben auch den anderen Martin Amis. Der in seinem letzten Roman „Night Train“ an die Grenzen des Melodramatischen geht – und stellenweise auch über die Grenzen hinaus. Und der in der Erzählung „Schweres Wasser“ auf 19 Seiten die Lebenskatastrophe von John und seiner Mutter so gekonnt und dezent in Szene setzen kann.
Martin Amis: „Schweres Wasser und andere Erzählungen“. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000. 284 Seiten, 39,80 DM
Ja, Schatz
Stimmt eigentlich der Eindruck, dass sich die Rainald-Goetz-Rezeption inzwischen in ein interessiertes Fantum einerseits und ein harsches Nicht-mehr-zur-Kenntnis-Nehmen andererseits aufgespalten hat? Jedenfalls ist es merkwürdig, wie wenig er in den wogenden Literaturdebatten dieser Tage vorkommt. Wo doch erstens jeder zweite Jungliterat, der auf sich hält, und jeder so genannte Popliterat sowieso von Goetz beeinflusst wurde. Und ihm zweitens in puncto Gegenwarts- und Momenterhaschung niemand was vormacht.
Wir haben uns vorgenommen, darauf noch gesondert zurückzukommen, können es aber doch nicht lassen, schon mal das Erscheinen der Erzählung „Dekonspiratione“ kurz anzuzeigen. Rainald Goetz schreibt über eine Beziehung: Zauberseiten, wenn auch nur wenige! Außerdem kommen Lesungen, Schreibskrupel, Berliner Szenen, Musikmachen, Zeitungslektüren und viele Namen vor. Angelegt ist das Büchlein als Gegenstück zur 98er-Erzählung „Rave“, und es hört auf mit dem schönen Satz: „Ja, Schatz, das stimmt.“
Rainald Goetz: „Dekonspiratione“.Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.208 Seiten, 36 DM
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