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Blut an der anderen Hand

Sehen und Gesehenwerden: Mit diesen Motiven spielt Antonio Muñoz Molina in „Die Augen eines Mörders“. Dabei erweist er sich wieder einmal als stilsicherstes literarisches Chamäleon Spaniensvon DIEMUT ROETHER

Die Tat ist abscheulich: Ein Mädchen ist ermordet worden, an einem Septemberabend, in einer kleiner Stadt im Süden Spaniens. Der Volkszorn kocht. Lynchen will man den Schuldigen, ihm „die Eier abschneiden“, wenn man ihn findet, „und ihn dann verbluten lassen und hinterher auf der Müllkippe verscharren“.

Die Tat ist so abscheulich, dass selbst der Inspektor, der in seinem gut zwanzigjährigen Berufsleben viele schlimm zugerichteten Leichen gesehen hat, beim Anblick des toten zehnjährigen Mädchens zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Leid und Trauer empfindet.

Antonio Muñoz Molinas Roman „Die Augen eines Mörders“ hat alle Ingredienzien eines packenden Krimis: Einen Inspektor, der wie ein einsamer Wolf durch die herbstlichen Straßen der Stadt streicht – angetrieben von einem „leidenschaftlichen Groll, von dem niemand etwas wusste und der nichts als reine Rachsucht war“.

Der Fahnder ist sich sicher, dass er den Mörder an seinen Augen erkennen wird, denn „in seinen Pupillen muss ein Abglanz sein, ein Rest oder ein Funken des Entsetzens, das in jenen Kinderaugen gestanden hat“. Einen Mörder, der nur in Vollmondnächten aktiv wird. Eine Lehrerin, die nicht nur ihren Schülern Schreiben und Lesen beibringt, sondern auch den einsamen Wolf wieder sehen und lieben lehrt . . . Inhaltlich sieht hier manches durchaus nach Kolportage aus.

Das Wunder aber ist, wie es Muñoz Molina gelingt, aus diesen so abgegriffen wirkenden Elementen einen packenden und zugleich klugen Roman zu machen. Es muss etwas mit der Tradition der spanischen Kriminalliteratur zu tun haben, die sich schon zu Francos Lebzeiten darauf spezialisiert hat, nicht nur den klassischen Whodunnit-Plot abzuspulen, sondern vor allem in diesen so ordnungserhaltend wirkenden Räuber-und-Gendarm-Geschichten das unterzubringen, was eigentlich nicht gesagt werden durfte: Regimekritisches.

Die besten Krimis, die seit den Siebzigerjahren in Spanien erscheinen, sind daher – noch mehr als beispielsweise die guten amerikanischen black novels – hellsichtige Analysen der Gesellschaft. Prominentester Vertreter dieser Art von Literatur ist Manuel Vázquez Montalbán, der seines Detektivs Carvalho inzwischen allerdings müde geworden ist und kürzlich mit einem historischen Roman über die Borgia brillierte – mit dem er aber selbstredend vor allem der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will.

Vázquez Montalbáns jüngerer Schriftstellerkollege Muñoz Molina hat sich bislang nicht gerade als Krimiautor hervorgetan, obwohl viele seiner Bücher deutlich kriminalistische Züge tragen. Der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete 44-Jährige ist ein erstaunlich wandlungsfähiger Autor, ein Wanderer durch die Genres, die er verblüffend stilsicher beherrscht. Sein zuletzt in Deutschland erschienenes Buch, „Der Putsch, der nie stattfand“, war ein literarisch höchst amüsanter Tribut an die spanische Schelmenliteratur – mit einem angedeuteten kriminalistischen Plot.

Nun hat das literarische Chamäleon also einen Krimi geschrieben, noch dazu über einen Mädchenmörder, und es gelingt ihm tatsächlich, fast alle in diesem heiklen Plot verborgenen Fußangeln zu umgehen. Denn im Mittelpunkt der Kritik steht bei Antonio Muñoz Molina die Gesellschaft, die die Augen vor dem Offensichtlichen verschließt. „Sie haben Augen und sehen nicht, sie haben Ohren und hören nicht“, sagt der alte Jesuitenpater Orduña, bei dem der Inspektor in die Schule gegangen ist.

„Die Leute achten nicht auf das, was andere tun oder sagen“, bemerkt die Lehrerin. Nur so ist es möglich, dass der Mörder mit seinem willenlosen Opfer die ganze Stadt durchqueren kann, ohne aufzufallen. Einzig eine alte Frau vom Lande erinnert sich Tage später, dass sie das Mädchen in Begleitung eines jungen Mannes gesehen hat: „Mir fiel auf, dass der Mann Blut an der anderen Hand hatte, er leckte es ab, und ich dachte, wenn er nicht aufpasst, macht er der Kleinen Blutflecken aufs Zeug.“

Wer sieht was? Wem fällt etwas auf? Wer schaut wen an? Der ganze Roman kreist um das Thema des Sehen-und-Gesehenwerdens.

Der kürzlich erst vom Baskenland in den Süden Spaniens versetzte Inspektor, der Tag und Nacht Ausschau nach dem Mörder hält, wird selbst, ohne es zu merken, von einem anderen beobachtet. In der südspanischen Kleinstadt wähnt sich der Polizist, der vierzehn Jahre lang mit dem allgegenwärtigen baskischen Terrorismus wie im Feindesland gelebt hat, erstmals in Sicherheit.

Nach Jahren des Versteckens legt er nach und nach seine gewohnten Vorsichtsmaßnahmen ab. Doch es bedarf einer grausamen Tat und einer gewaltigen seelischen Erschütterung, um den Panzer der Gleichgültigkeit, mit dem er sich gegen die allgegenwärtige Bedrohung gewappnet hatte, aufzubrechen.

Wer ist schon der, der er zu sein scheint, und wem sind die Untaten, die er in seinem Leben begangen hat, ins Gesicht geschrieben? Wer würde hinter den berühmten Renaissance-Fassaden der Stadt so viel Hoffnungslosigkeit und Stumpfheit vermuten?

Der Mörder sieht aus „wie ein harmloser Mensch“, hat eine sanfte Stimme und ganz gewöhnliche Augen – „einen Blick, wie ihn jedermann haben konnte“. Der aufrechte, so furchtlos wirkende Inspektor hat – um vor seinen Kollegen nicht als Feigling dazustehen – den Antrag auf seine Versetzung aus Bilbao so lange hinausgezögert, bis seine Frau, zermürbt von der ständigen Bedrohung, den anonymen Anrufen und Briefen, keiner Gefühlsregung mehr fähig war. Wenn der Inspektor sie im Sanatorium besucht, blickt er in ihre erloschenen Augen, „hinter denen sie nicht aufzufinden war“.

Das alles erzählt Antonio Muñoz Molina in atemberaubendem Tempo, in drängenden, suggestiven Sätzen. Der sorgfältigen Arbeit von Willi Zurbrüggen ist es zu verdanken, dass dieser eigenwillige Rhythmus in der deutschen Übersetzung erhalten blieb.

Souverän wechselt der Autor die Perspektive, erzählt die Geschichte aus der Sicht des Inspektors, der Lehrerin, des Mörders – und sogar des Opfers. Satz für Satz entsteht so die Radiographie einer Gesellschaft, die die Orientierung verloren hat, weil keiner mehr auf den anderen achtet.

Die Lehrerin beobachtet die Kinder aus dem einfachen Arbeiterviertel, in dem sie seit fast zwanzig Jahren unterrichtet, und stellt fest: „Heutzutage sind sie zwar nicht mehr so arm wie früher, aber sie haben nichts, woran sie sich halten können, und wissen sich selbst nicht zu helfen.“

Das Buch ist das leidenschaftliche Plädoyer eines Moralisten für längst aus der Mode gekommene Werte wie Solidarität, Verantwortung und Respekt.

Antonio Muñoz Molina: „Die Augen eines Mörders“. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000, 480 Seiten, 42 DM

Zitat:

Der Mörder sieht aus wie einharmloser Mensch, hat einesanfte Stimme und gewöhnlicheAugen – einen Blick, wie ihnjedermann haben könnte

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