DIE MEDIEN SKIZZIEREN EIN VÖLLIG FALSCHES BILD VON DER JUGEND: Vom Sinn der Irritation
Gestern früh wurden im Rundfunk Experten für Ausländerhass interviewt. Ihnen fiel wie immer viel ein, zumal zu den allerneuesten von der Shell-Jugendstudie herausgefundenen Werten. Jeder vierte Jugendliche sei ausländerfeindlich. Nun steht nichts davon in der Studie. Ein in empirischer Sozialforschung überforderter Spiegel-Redakteur hat dieses und anderes durcheinander gebracht. Er hat nicht mal bei den Wissenschaftlern, die er zitierte, nachgefragt. Spiegel-Online macht mit dem Fake seine Erregungsgewinne im Internet, und die Presseagenturen legen dann noch einmal drauf. Keiner kommt auf die Idee, bei den Autoren der Studie anzurufen. Stattdessen Überschriften wie „Deutsche Jugendliche stark ausländerfeindlich“.
Die Irritationsvermeidung von Journalisten ist das eine Problem. Es gibt kein Lernen ohne Irritation, sagte Luhmann. Die andere Dummheit produzieren auch alle anderen gern gegenüber „der Jugend“. Das Jugendbild muss mit Macht gerahmt werden. Aber, das ist eines der interessanten Ergebnisse der neuen Shell-Jugendstudie, diese Jugend passt nicht gut in Rahmen, sie ist nicht überschriftentauglich. Sie selbst übt sich in dem, was wir brauchen, in einer Art subversiver Konstruktivismus. Abkehr von den großen Tönen.
Politiker werden von diesen Jugendlichen kaum noch angegriffen, sie werden auch nicht missachtet. Den Nachfahren der Priesterkaste hören sie nicht mehr zu. Der Vorteil der Spiegel-Meldung könnte sein, nun auch ein paar andere sichere Urteile der Irritation von Empirie auszusetzen. Irritation kann man in den fast 900 Seiten der Studie genug finden, zumal in den Geschichten der 32 porträtierten Jugendlichen. Bei ihnen kann man den Blick für die allmähliche Auflösung einer Politik der Repräsentation und Delegation schärfen und Ansätze einer Alltagspolitik von Selbstorganisation und eigener Wirksamkeit beobachten. Es ist ja immer dasselbe: Wenn die Erwachsenen etwas über sich selbst erfahren wollen, müssen sie mit Jugendlichen sprechen. „Wie soll ich wissen, was ich gesagt habe, solange ich nicht die Antwort darauf gehört habe“, sagte der Kybernetiker Norbert Wiener. Jugendstudien geben Erwachsenen Aufschluss über sich selbst. REINHARD KAHL
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