■ H.G. Hollein: Unaufgefordert
Die Menschen, in deren Reihen ich wandle, halten mich offenbar für unterbelichtet. Wie sonst ließe sich erklären, dass mir an einem Brötchenstand im Mercado auf einmal eine Frauenstimme von hinten ins Ohr säuselt: „Passen Sie auf, die sind alle ganz trocken.“ Sprach's, zwinkerte mir zu und verschwand. Bis ich die unerwartete Information verarbeitet hatte, hielt ich mein Brötchen allerdings schon in der Hand. Ich weiß auch nicht, was ich davon zu halten habe, dass, wenn ich auf dem Markt in einer Schlange stehe und die Verkäuferin fragend in die Runde blickt, die alten Mütterchen neben mir unweigerlich meinen, bekunden zu müssen: „Der junge Mann da kam zuerst.“ Erstens weiß ich das sehr wohl selbst, zweitens bin ich nach meinem Dafürhalten mit 44 Jahren seit längerem aus der Krabbelgruppe raus. Aber das sieht man mir anscheinend nicht an. Auch schätze ich es nicht, wenn ich mit misstrauisch aufgespanntem Regenschirm auf den Bus warte, von umstehenden selbsternannten Wohlmeinern mit dem Hinweis bedacht zu werden: „Es hat aufgehört.“ Wissen die nicht, dass jedem Ende ein neuer Anfang implizit ist? Ich bin dann jedenfalls vorbereitet. Vollends rätselhaft ist mir der Umstand, dass beim Duchqueren gewisser Bereiche unserer Fußgängerzonen unter den ja nicht gerade wenigen Passanten offenbar nur ich regelmäßig in den Genuss komme, von meinen büchsenbierbewehrten Mitbürgern über den Zustand der Welt, respektive ihren nahenden Untergang aufgeklärt zu werden. Dass „alle vermaledeite Bakkaluten“ sind, ist angesichts eines riechbar olympischen Alkoholpegels eine artikulatorisch allemal beeindruckende Mitteilung, scheint mir aber in seiner kategoriellen Vagheit als konkrete Handlungsanleitung nur bedingt anwendbar. Aber sei's drum, als augenfälliger Simpel rechne ich sowieso tagtäglich damit, dass mich eine verantwortungsbewusste junge Mutter an die Hand nimmt und unaufgefordert über die Ampel geleitet.
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