: Die OS auf den Prüfstand?
In Bremen ist die niedersächsische Debatte um die Orientierungsstufe bisher noch nicht so richtig angekommen / Ein Stimmungsbild aus dem Schulzentrum Obervieland
Vor einer Woche nun hat der neue Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) die Orientierungsstufe „auf den Prüfstand“ gestellt: Zwei Jahre lang sollen Experten untersuchen und Betroffene debattieren. Dann soll es eine Entscheidung geben, wie viel Leistungs-Differenzierung es für die fünften und sechsten Klassen geben soll und in welcher organisatorischen Form diese Orientierungsphase stattfinden soll. Für Gabriel hängt daran auch die Entscheidung über eine flächendeckende Einführung des „Abiturs nach zwölf Jahren“.
Kaum mehr als einen Kilometer von der Landesgrenze bei Stuhr entfernt befindet sich das Schulzentrum Obervieland, unter dessen Dach sich ein Gymnasium und eine Orientierungsstufe befinden. Im gemeinsamen Lehrerzimmer ist die niedersächsische Debatte aber noch nicht angekommen, das Kollegium ist die Debatten eher müde.
Maria Drössel, Klassenlehrerin einer 5. Klasse, hält trotzdem auch in Bremen eine Diskussion für notwendig. Aber aus anderen Gründen: „Wir hatten an dieser Schule früher 18 Schüler in kleinen Klassen, da war das fantastisch. Gerade für unseren Stadtteil. Da gibt es viele Kinder, die diese zwei Jahre brauchen, um sich zu stabilisieren. Seit anderthalb Jahren haben wir bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse. Da ist es sehr schwierig, einzelne zu fördern.“
Sie ist aber strikt dagegen, wieder nach der vierten Klasse die Weichen für den Lebensweg zu stellen. An der Prognose nach der vierten Klasse würde sich zwar nur „in einigen Fällen“ etwas ändern, aber es gehe ja nicht nur um die Leistung: „Es gibt ja auch soziale Ziele.“ Seit diesem Schuljahr konnten die Eltern eine „Musik“-Klasse für ihr Kind wählen. Das ist für die Lehrerin schon ein kleiner Schritt weg von diesem sozialen Lernen: „Wenn ein Kind in die Schule kommt und sagt, ich kann Klavier spielen oder Flöte, ist das ein Zeichen dafür, dass das Elternhaus in Ordnung ist, weil auf so etwas geachtet wird. Wenn die aussortiert werden in die Musik-Klasse und die anderen in die Sport-Klassen, dann bleiben Restklassen. Das muss man auch kritisch sehen.“
Maria Drössel hat so eine „Restklasse“. Das Elternhaus ist „ganz stark“ verantwortlich für Lern-chancen der Kinder. Diesen Hintergrund kann die Schule nicht ausgleichen. „Ich bin zu 50 Prozent hier Sozialpädagogin“, sagt die Lehrerin und berichtet von einem zwölfjährigen Jungen, der drei Tage die Schule geschwänzt hat. Rainer Czibulka, Initiator der Musik-Klasse, teilt diese kritische Bewertung: „Man kann das, was bei uns läuft, nicht mehr als Orientierungsstufe bezeichnen.“ OS bedeutete einmal Kleingruppen in den Fächern, wo das nötig ist, Förderunterricht, eben Orientierungshilfen. „Mittlerweile haben wir bis zu 30 Schüler in der Klasse und dafür 36 Lehrerstunden. Wir können gerade mal in Naturwissenschaften, Werken und textilem Gestalten Halbgruppen machen.“
Was notwendig ist, bedarf für ihn keiner großen Debatte: „Ich verlange mehr Lehrerstunden und kleinere Klassen. Dann ist die OS eine gute Schulform, weil da auch soziales Lernen in ganz großem Umfang stattfindet.“
Einen Tisch weiter im Lehrerzimmer sitzt Karsten Eggers. „Ich bin Gymnasiallehrer“, sagt er. „Ich bin immer gegen die OS gewesen. Ich habe zur Zeit zum Beispiel wieder zwei siebte Klassen“, eine Gy- und eine Realschul-Klasse. „Die Defizite sind da. Ich unterrichte Mathematik. Da sieht man das sehr deutlich. Die, die gut sind, sind unterfordert in der OS. Und es ist schwierig, denen gerecht zu werden, die schwach sind. Man kann nicht immer ganz unten als Level nehmen.“
Für Eggers gibt es noch ein anderes Problem bei der Orientierungsstufe: „Viele wählen danach nicht den richtigen Weg. Ich habe in der Gymnasial-Klasse einige, die wären in der Realschule besser aufgehoben. Die kriegen eine kalte Dusche nach der nächsten. Das hängt aber damit zusammen, dass die Eltern frei wählen können, auf welche Schule ihre Kinder danach gehen.“
Für Petra Arnold hat es die Debatte um die OS „immer gegeben“. Ihr Nachteil: Die „mangelnde Möglichkeit zur Leistungsdifferenzierung“. Sie wäre aber nicht für das Gabriel-Modell einer Grundschule bis zur fünften Klasse und für die, die zum Gymnasium gehen, dann das Abi in 12 Jahren: „Ein Gymnasium ab Klasse fünf wäre sicherlich für die Bildungsbürger-Kinder und für uns Bildungsbürger-Lehrer vorteilhaft. Aber es ist sinnvoll, dass die Kinder Komponenten mitbekommen, die sie in den bodenständigen Gymnasien nicht mitbekommen würden. Aber mehr Förderunterricht und Leistungsdifferenzierung müsste es geben.“
Abi in zwölf Jahren hielte sie „für völlig verkehrt“, insbesondere weil die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer darunter leiden würden, dass kein Freiraum wäre für Philosophie und Religion, wenn nur die Anforderungen für Mathematik und die Sprachen gepaukt würden.
Ist das bei dem Modellversuch am Kippenberg so? Noch weniger als von der Diskussion in Niederdachsen erfahren Bremens Lehrer offenbar von dem Zwölfjahres-Abitur am Kippenberg. K.W.
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