: Lille-Sud kommt nicht zur Ruhe
Der Tod eines Algeriers durch Polizeikugeln bringt in Frankreichs Vorstädten Jugendliche auf die Straße
PARIS taz ■ In Lille war auch gestern keine Versöhnung möglich. Obwohl die Justiz Anklage wegen Totschlags gegen den Polizisten erhob, der am Wochenende einen mutmaßlichen Autodieb aus nächster Nähe erschossen hat, und trotz der Schlichtungsversuche aus dem Rathaus, hielten die Unruhen unvermindert an. Am Montagabend ging der Trauerzug für den erschossenen Ryad Hamlaoui (25) nahtlos in Straßenschlachten über. Die Polizei verhaftete 61 Personen.
Dabei hatte die Vizebürgermeisterin von Lille, die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry, auf die Polizeischüsse ungewöhnlich scharf reagiert. Schon am Morgen nach den Schüssen ließ sie keinen Zweifel an der Verantwortung des Polizisten. Es gehe darum, begründete sie, „das Vertrauen der Jungen in die Institutionen zu erhalten“.
Die Justiz stand der Politikerin nicht nach. Sie transferierte den 27jährigen Lilloiser Kontaktbereichsbeamten, der erklärt hatte, „aus Angst“ und in Reaktion auf eine brüske Geste geschossen zu haben, umgehend in ein Pariser Gefängnis. Jetzt wird gegen ihn wegen Totschlags ermittelt.
Dergleichen hat es in der langen Serie von „Polizeifehlern“ in französischen Vorstädten nie gegeben. Gewöhnlich werden Polizisten vom Dienst suspendiert, wenn es Tote oder Schwerverletzte gibt, und Monate, respektive Jahre später zu symbolischen Strafen wegen „Selbstverteidigung mit Todesfolge“ verurteilt.
Den Jugendlichen in Lille-Sud reichen diese Beruhigungsversuche nicht. Trotz der mahnenden Worte aus der algerischen Familie des Toten und vom Rektor der örtlichen Moschee, der Ryad einen „anständigen Jungen“ und einen „algerischen Märtyrer“ nannte, waren sie auch gestern Nachmittag entschlossen, ihre nächtlichen Straßenkämpfe fortzusetzen. Von Lille-Sud, wo Ryad Hamlaoui am Sonntag morgen um 0 Uhr 27 unbewaffnet in einem gestohlenen Opel-Corsa saß, als ihn der tödliche Schuss in den Nacken aus zwei Meter Entfernung traf, griffen die Unruhen inzwischen auf andere Vorstädte von Lille über.
In Lille-Sud, wo 23.000 Menschen leben, liegen Einwanderer- und Arbeitslosenquote weit über dem nationalen Durchschnitt. Nach früheren Unruhen bekam der Stadtteil, wo wegen der Nähe zur belgischen Grenze viel und hart gedealt wird, im vergangenen Jahr eine mit Hunden ausgestattete Nachbarschaftspolizei. Doch deren Mitarbeitern gelang es nicht, ein „Vertrauensverhältnis“ zu den Bewohnern zu entwickeln. Aus dem Hochhaus mit dem klangvollen Namen la Marguerite wurden sie mit Steinen beworfen, aus Nachbargebäuden beleidigt, und vor nur zwei Wochen schlugen Jugendliche in dem Stadtteil einen Polizisten krankenhausreif. DOROTHEA HAHN
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