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Bauchladen des deutschen Glückes

Der Volkskundler Hermann Bausinger und die Deutschlandkorrespondentin Pascale Hugues suchten Gemütlichkeit, Ordnungsliebe und Tiefsinn – und sie fanden zwei Völker zwischen Provinz, Europa und Mütterfrühstück

von SABINE VOGEL

Was ist daran bemerkenswert, wenn man zu einem Buswartehäuschen geht, auf den Fahrplan sieht, bis zur angegebenen Zeit wartet und dann in den Bus steigt? Nichts eigentlich. Busse sind hierzulande oft pünktlich. Bemerkenswert wird es erst, wenn man etwa in Marrakesch ist und mit dem Bus fahren möchte, wo Bushaltestellen und geschriebene Fahrpläne ungebräuchlich sind. Dort hält der Bus an einer allgemein bekannten Straßenecke zu einer allgemein bekannten Zeit. Für sprachunkundige Ausländer ist das zwar schwer zu durchschauen, aber der Bus ist deswegen nicht weniger pünktlich als bei uns. Eigenes, die Bushaltestelle und den Fahrplan, erkennt man erst durch den Kontrast des Fremden, oder umgekehrt: Urteile über Fremdes beruhen auf der Abweichung von der eigenen Norm, so eine zentrale Überlegung in Herman Bausingers Buch „Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?“ Nur: Wie nähert man sich diesem Eigenen, diesem Deutschen? Wie erkennt man es als typisch?

Zuerst: Die Unterscheidungen zwischen Eigenem und Nicht-Eigenem setzt voraus, dass es zwei Beteiligte gibt – den Beschreibenden und den Beschriebenen. Die Beschreibung gibt Aufschluss über beide. Bausingers Tübinger Studenten untersuchten die Ansichten von ausländischen Studenten über deutsche Studenten. Das Ergebnis: Die griechischen Gewährsleute stellten fest, dass die Deutschen immer arbeiten wollten, während die Japaner monierten, dass deutsche Studierende im Sommer schon morgens untätig auf der Wiese lägen.

Damit der Eindruck entsteht, etwas sei „typisch deutsch“, sei es übrigens nicht nötig, dass es alle Deutschen tun – etwa samstags ihr Auto waschen. Um als typisch zu gelten, genügt es, so Bausingers Annahme, wenn etwas als Ausdruck einer spezifischen Möglichkeit wahrnehmbar ist. Es ist im Wesentlichen eine verallgemeinernde Zuschreibung, die Bausinger jedoch nicht schlüssig begründet. Woran erkennt man eine in einer Gesellschaft angelegte Möglichkeit? Oder benutzt man das Argument besser im Umkehrschluss nach dem Motto „Wenn die Deutschen als reinlich gelten, muss es wohl stimmen“?

Ausgestattet mit diesem methodischen Instrumentarium bricht Bausinger auf, um „Nationale Eigenarten auf den Prüfstand“ zu stellen. Er klappt seinen volkskundlichen Bauchladen auf und berichtet über Speisen und Landschaften, Sicherheitsbedürfnis und Reiselust, Gemütlichkeit, Vereine, Heimat und Tiefsinn. Symbole nationaler Erinnerung wie die Fahne, die Hymne, historische Orte und Persönlichkeiten werden ebenfalls behandelt. Nur: Auf den Prüfstand gestellt wird hier nichts. Um Eigenes als eigen und womöglich noch als Typisches zu erkennen, bräuchte man den Kontrast des Fremden – wie es Bausinger selbst zuvor verlangte. Er hingegen berichtet aus der Innenperspektive. Um das „typisch Deutsche“ der vorgestellten Aspekte hervorzuheben, zieht er nur punktuell und unsystematisch Außenkontraste heran – aber die belegen oft eher, dass die als deutsch angenommene Eigenart gar nicht deutsch ist: so die „typisch deutsche“ Kleinräumigkeit und Enge. Möglicherweise gibt es in Deutschland mehr Zäune als anderswo, doch lässt sich das nicht durch den Kontrast zu den USA als typisch deutsch identifizieren. Vielmehr stehen sich hier europäische und amerikanische Stadtkonzepte gegenüber. Europäische Städte, italienische ebenso wie deutsche oder niederländische, haben einen Ortskern mit Kirche, Marktplatz und Rathaus. Hinzu kommt eine äußere Begrenzung: eine Stadtmauer. Selbst wenn die Städte über diese Begrenzung hinausgewachsen sind, prägt sie die Idee der Stadt in Europa. Amerikanische Städte sind demgegenüber viel offener: kein Zentrum, keine Umgrenzung. Kleinräumigkeit ist ein Kriterium, aber nicht für typisch Deutsches, sondern für typisch Europäisches. Ebenso wenig überzeugen Bausingers Beobachtungen zu den vermeintlich deutschen Merkmalen Gemütlichkeit, Ordnungsliebe, Tiefsinn.

Bleibt am Ende die Frage: Sind wir ein Volk? – und eine Antwort, die auf verblüffende Weise Bausingers Vorannahme für „deutsch“ deutlich werden lässt. Er stellt fest: „Die Bevölkerung der DDR fügt sich nicht einfach in eine gesamtdeutsche Identität, sondern bewahrt und entwickelt ein eigenes Profil“. „Deutsch“ ist demnach „westdeutsch“ und die Bürger der ehemaligen DDR sind, oh Wunder, „auch deutsch“, aber anders. So gesehen sind wir nicht ein Volk, sondern zwei.

Zur Lösung des Dilemmas führt der Autor elf Seiten vor Ende seines Textes das Zauberwort „Gestufte Identitätspotentiale“ (von Manfred Prisching) ein. Mit diesem Ansatz hätten sich die Situationen, in denen das Eigene deutsch und damit national ist, systematisch von denen trennen lassen, in denen Eigenes lokal, regional oder kontinental definiert ist. „Deutsch“ ist dann nur eine Identität neben „europäisch“ und „brandenburgisch“. Spannend wäre dann, ob die Zuschreibungen wie „tiefsinnig“ oder „ordnungsliebend“ tatsächlich typisch deutsch sind?

Pascale Hugues, die Autorin von „Deutsches Glück“ hat gegenüber Bausinger die leichtere Ausgangsposition: Sie betrachtet Deutschland von außen. Von Waldkirch (Baden) nach Fürth, von Bitterfeld nach Ferdinandfehn und weit über die Grenzen hinaus nach Königsberg, ist sie gereist, immer auf der Suche nach Facetten dessen, was sie als „deutsch“ wahrnimmt. Die Reflexion ihrer eigenen Position nimmt in manchen Texten einen fast ebenso großen Raum ein wie ihre Beobachtungen. So nimmt sie die Anti-Atom-Bewegung als typisch deutsch wahr.

In ihrem Bericht über eine Reise ins Wendland notiert sie ihre Vorbehalte gegenüber den wenig elegant gekleideten Atomkraftgegnern, die aus politischen Gründen auf den Genuss von Entrecote und französischem Rotwein verzichten. (Eine gängige französische Selbstzuschreibung ist es offenbar, so lernt man en passant, dass sich die Französin die Beine rasiert, stets im Kostüm auftritt und unter allen Umständen auf einem guten Essen besteht.) Doch allmählich wächst Hugues’ Sympathie für ihre Gesprächspartner. Selbstkritisch schreibt sie: „Eigentlich war ich gekommen, um mich über eine deutsche Macke zu amüsieren. Das Engagement der Bewohner des Wendlands, die Entschlossenheit, mit der sie ihre Interessen vertreten, und der Einfallsreichtum, den sie dabei an den Tag legen ... all das beeindruckt mich. Ich mag dieses Ausüben der Demokratie im kleinen.“

Beißend ironisch dagegen kommentiert Hugues deutsche Mütter, ihre Erziehungsprobleme und die Gemütlichkeit beim „Frühstück Berliner Art“: „Die Küche ist der gemütliche Ort schlechthin mit ihrer Eckbank, dem summenden Kühlschrank, dem anhaltenden Geruch der gebratenen Zwiebeln vom Vortag und dem gegen alles gewappneten Wachstuch.“ So bekommen die Topoi Tiefsinn und „deutsche Gemütlichkeit“ einen Ort.

Als Reporterin beschreibt Pascale Hugues einzelne Erlebnisse, einzelne Personen. Inwieweit ihre Beobachtungen tatsächlich „typisch Deutsches“ bezeichnen, diese Verallgemeinerung überlässt sie ihren Lesern. Man erfährt eine Menge über Deutschland und Frankreich auf kurzweilige und bissige Art. Aber ist das nun „typisch französisch“, oder „typisch Pascale Hugues“?

Hermann Bausinger: „Typisch deutsch“. C. H. Beck, 2000, 17,80 DM Pascale Hugues: „Deutsches Glück“. DVA, 1999, 39,80 DM

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