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wir lassen lesenReinkarnation des Sports als tägliche Seifenoper

LOBANOWSKIS KURZE SOCKE

Macht jemand bei der tageszeitung tagesjournalistische Leibesübungen und bekommt ein Buch mit dem Titel „Ich gebe alles“ in die Hand gedrückt, kann dies zweierlei bedeuten: Entweder beginnt der Zweifel am eigenen Fleiß oder eine Rezension ist angesagt.

Selbstbewusst für das Letztere entschieden, wird also im mentalen Anpfiff von Joe Bauer losgeblättert. In der Edition Tiamat sind nun seine „Glossen und Geschichten aus der Welt des Sports und artverwandter Wettkämpfe“ gesammelt, „freundlicherweise sortiert und zwischen zwei Buchdeckeln abgelegt“. Das ist keine schlechte Idee, denn Bauers Glossen zur aktuellen Vergangenheit der Sportwelt lösen das Versprechen nach Sprachfindigkeit ein, das auf dem Buchrücken vorschnell gegeben wird. Wirklich schade, dass die Kolumnen in ihrer damaligen Aktualität nur den Lesern der Stuttgarter Nachrichten vorbehalten blieben.

Die inzwischen leider schon hinreichend besprochenen Themen um den Ohren kauenden Mike Tyson, den rüpelnden Rohling Werner Lorant oder das vom „Rucksack zum Kulturbeutel“ umschulenden Lothar Matthäus sind zwar äußerst kurzweilig, aber eben ohne Originalität.

Wenn sportinfizierte Voyeure das Fettnäpfchentreten bekannter sportlicher Dummbeutel allerdings noch mal augenzwinkernd rekapitulieren möchten, ist „Ich gebe alles“ von Joe Bauer genau richtig. Und als argwöhnisch humorvolles Zeitdokument einer Showwelt in der Sportwelt könnten seine Einwürfe noch treffender werden, wenn sie historisch zu erzählens- und vorlesungswerten Anekdoten reifen.

Dies funktioniert bereits beim heutigen Kiew-Coach Waleri Lobanowski und dessen Taktikkonzept zur EM 1988. Nachdem Bauer ihm in einer Pressekonferenz vorhielt, höchstens seine kahlen Waden zwischen den Socken und der kurzen Trainingshose zu offenbaren, überraschte dieser ihn nach dem Halbfinalsieg über Italien mit einem ausgedehnten Vortrag zur Fußballphilosophie: „Es sei kapitalistische Dummheit, Menschen nach ihren Turnhosen zu beurteilen.“

Obwohl Bauer einerseits die Debatten in den Boulevardzeitungen ihrer sensationsgierigen flachen Ebene enthebt, benutzt er andererseits auch ihre immer wiederkehrenden Schablonen – ohne die Übersättigung in den Medien kritisch genug aufzuzeigen. Bei seinen Impressionen zur Tour de France gelingt es dann doch, indem er sie als einfältige Daily Soap entlarvt: „Was für ein überwältigender Anblick, wenn der Pulk frisch rasierter Rennfahrerbeine – im verhangenen Sonnenlicht aquarellhaft hingetupft und vom heißen Asphaltspiegel elektrisierend verfremdet – der Kamera entgegen fliegt. Und gleich dahinter in Rudi Altigs kurpfälzlerisch behaarten Männerarmen landet. Erregender wäre kein Massensturz aus der Perspektive des Hubschraubers.“

Manchen Meldungen kann Bauer volltrefflich am Zeug flicken, etwa wenn er sich zum koksenden Skispringer Andreas Goldberger fragt: „Warum sollte ausgerechnet ein Skiflieger nicht abheben? (...) Schließlich feuerten ihn die Fans unter der Schanze seit Jahren an wie durchgeknallt: ,Zieh! Ziiieh! Ziiieh!‘ So hat sich Goldi eben einen reingezogen. Berufsrisiko.“

Auch sein Rückblick auf die Fußball-WM 1998 beweist, dass die Lächerlichkeiten der deutschen Nationalelf niemals gratis sind und immer als gemütliche Klolektüre taugen: „Der deutsche Fußball, las ich eben in der Zeitung, sei in ein ,tiefes Loch‘ gefallen. Ich blickte kurz hinter mich, erkannte die Wahrheit und stand auf, weil ich ein Deutscher bin.“ Geschickt projiziert Bauer die Schuldfrage des herrlich demoralisierenden Ausscheidens der Vogts-Elf gegen Kroatien auf die fehlende Abstimmung zwischen Kanzler Kohl und Fußball: „Waren es nicht Sie und Ihr Außenminister, die Kroatien einst aus alter Verbundenheit voreilig als autonomen Staat anerkannt hatten?“ Nie wären andere Länder nachgezogen, nie hätte es eine kroatische Nationalmannschaft gegeben, nie hätte man sich so blamieren können.

Sind deshalb zur Euro 2000 versöhnende Verschwörungstheorien zu erwarten? Ist es möglich, dass das „jämmerliche“ (Jeremies) Ribbeck-Gerippe sogar eine Wild Card für das Viertelfinale bekommt?

Außenminister Fischer müsste nur „ein Zeichen setzen“ (Matthäus) und den bevorstehenden EM-Gruppengegnern Portugal, Rumänien und England schnell mal so ihre Autonomie absprechen? Psst, nicht weitersagen – der würde es vielleicht tun. GERD DEMBOWSKI

Joe Bauer: „Ich gebe alles – Ein mentaler Anpfiff“. Edition Tiamat, Berlin 2000, 28 DM

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