: Pures Gefühl für Fishtown
■ Ricardo Fernando verlässt Bremerhaven. Zum Abschied hat der Ballett-Chef eine furiose Choreographie namens „Tango“ hinterlassen
Der Tango hat die Stadt Bremerhaven wie ein Fieber ergriffen. Hier ist er mit Tränen verbunden, und seine schmerzhaft melancholischen Seiten sind mindestens so ausgeprägt wie seine aggressiven Reize. Denn „Tango“ ist das Abschiedsgeschenk des brasilianischen Tänzers Ricardo Fernando ans Theaterpublikum der Stadt, in der er sieben Jahre als Chef des Ballett-Ensembles gerarbeitet hat.
Mit sechs weiblichen und sechs männlichen Tänzern zeigt er im Theater im Fischereihafen (TiF) ein letztes Mal vor seinem Wechsel nach Chemnitz, worin seine Stärken liegen. „Tango“ ist eine Collage aus 15 Szenen, 15 Tango-Nummern, lauten und leisen, langsamen und schnellen, eine Mischung aus Gruppen-, Paar- und Solotänzen. Es ist ein musikalischer Reigen, der mit großer Leichtigkeit von ernsten und von komischen Begegnungen erzählt. Kleine Melodramen stehen neben Alltäglichem, Paarungen sprengen die Geschlechtergrenzen. Seine Variationen auf den Tanz der Liebe und des Todes setzt Fernando in ein leicht verblichenes argentinisches Tango-Lokal – eins von denen, in denen er sich vor drei Jahren auf der Suche nach Motiven für dieses Stück umgesehen hat. Er deutet es mit wenigen Tischen am Rande der Tanzfläche und einer langen Theke im Hintergrund an. Auf dieser Theke werden am Ende zwei Männer einen verwegen erotischen Tanz beginnen.
Am Anfang jedoch sitzen alle an den drei Seiten der Tanzfläche und müssen sich bemühen, von ihren Stühlen loszukommen. Fernando erinnert mit diesem Auftakt an eine seiner schönsten Choreographien, an die Carmen-Variationen, in der das Losreißen von den Stühlen ein zentrales Motiv gewesen ist. Wenn sie sich endlich freigemacht haben und die Tanzfläche besetzen, fließen die Gefühle, und die TänzerInnen sind nicht mehr zu halten.
Fernando mischt traditionelle und moderne Tango-Formen mit Formeln des klassischen Balletts. Dabei vermeidet er alles Formelhafte. Auch der Tango wird nicht zum Klischee seiner selbst. Die vielen Geschichten, die er transportiert, sprengen die konventionellen Formen. Allein voran dabei die Solotänzerin Carla Silva. Die kleine grazile Frau mit dem starken Charisma tanzt in Hose und Weste, sie wechselt fließend ihren Ausdruck zwischen männlich und weiblich, und wenn sie ihre Beine um die Hüften ihres Partners Bruno Mora legt, dann ist sie die Beherrschende, die die Führung im Tanz übernommen hat. Carla Silva ist das magische Zentrum dieser Inszenierung, aber ihr Zauber strahlt auf alle aus. Und wenn die zweite Solistin des Abends, Yolanda Garcia Gomez, ihre Schuhe und Strümpfe ablegt und ihr Haar öffnet, um die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer leidenschaftlichen Tänzerin zu erzählen, dann behauptet sie neben Silva eine eigene Kraft.
Vor dem letzten und feurigsten Ensemble-Tanz setzt Fernando eine Begegnung zwischen zwei Männern. Bruno Mora und Gregory LeBlanc stehen auf der Theke – mit nacktem Oberkörper und Hut auf dem Kopf. Sobald sie sich berühren, verlieren die Männerkörper alles Bedrohliche und verwandeln sich in Chiffren einer anderen Erotik, die das Harte und das Zarte nebeneinander bestehen lässt.
„Tango“ – das sind 80 Minuten pures Gefühl, das ist ein Wechselbad aus Schmerz und Heiterkeit, ein Abschied voller Wehmut, der von einem wehmütigen Publikum mit Beifallsstürmen belohnt wurde. Hans Happel
Aufführungen am 6., 7., 11., 14., 19., 24. und 27. Mai im (TiF); Kontakt Tel.: 0471/93 13 163
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