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Die Insel der Rebellen

Die islamistische Guerilla von heute hat die Geiseln in ihrer Gewalt. Die muslimische Guerilla von gestern versucht, deren Freilassung zu erreichen

aus Zamboanga und Jolo JUTTA LIETSCH

Am Pier von Zamboanga dümpelt die „Danica Joy 2“. Kühlschränke aus Singapur, Reissäcke aus Thailand, Pakete mit Fleischkonserven aus China stapeln sich an der Rampe. Davor drängen sich Passagiere und Lastenträger. Polizisten schlendern durch die Menge, die Maschinenpistolen locker über die Schulter gehängt.

Seitdem der Flughafen der südphilippinischen Insel Jolo am vergangenen Montag „aus Sorge vor einem Angriff durch muslimische Terroristen“ für den zivilen Luftverkehr geschlossen wurde, bleiben nur noch zwei Möglichkeiten, nach Jolo zu gelangen – die knapp achtstündige Reise mit der Nachtfähre oder das tägliche Schnellboot, das die gleiche Strecke in drei Stunden schafft.

Jolo, eines von tausend Eilanden in der Sulu-See, die an Malaysia und Indonesien heranreicht. Von hier gehen die Fernsehbilder der 21 Geiseln, die vor über zwei Wochen von der Ferieninsel Sipadan verschleppt worden waren, um die Welt. Bewacht von ihren bewaffneten Kidnappern, sitzen sie auf der vom Regen aufgeweichten Erde, unter freiem Himmel in einem Waldgelände.

Die Armee – Gefahr für die Geiseln

Ein philippinischer Journalist und eine Ärztin haben es geschafft, durch Militärsperren zu dem Versteck der Abu-Sayyaf-Guerilla am Fuß des Berges Dahu ins Inselinnere vorzudringen: Vor laufender Kamera bitten die Geiseln – erschöpft, verängstigt, zornig – um Hilfe. Die 57-jährige Renate Wallert kann nicht einmal mehr allein essen und trinken.

Die philippinische Armee umzingelt seit Tagen das Gelände – eine Gefahr für das Leben der Geiseln, glauben die Männer, die sich am Montagmorgen in der Umweltschutz- und Energiebehörde der „Autonomen Region im muslimischen Mindanao“ der 30.000-Seelen-Stadt Jolo versammeln. Das einstöckige Gebäude mit seinen schmucklosen Betonwänden, müden grünen Vorhängen, Resopal-Tischen und Plastikstühlen ist seit zwei Wochen lokales Hauptquartier für die Verhandlungen der Regierung mit den Kidnappern.

„Wir können nichts unternehmen, solange die Regierungsarmee darauf besteht, immer dichter an das Versteck der Entführer vorzumarschieren“, sagt Nur Mutalib, der die Kontakte zu den Entführern koordiniert. Mutalib, ein kräftiger Mann in sportlichem Baumwollhemd und Jeans, ist bemüht, die wachsende internationale Kritik abzuwehren, weil die formalen Verhandlungen bisher noch nicht einmal aufgenommen wurden. Neun seiner Mitarbeiter seien ständig damit beschäftigt, den Kontakt zu den Geiselnehmern aufrechtzuhalten, entschuldigt er. Auf seinem Gesicht spiegelt sich Ärger wider: „Aber das Militär setzt das Leben der Geiseln aufs Spiel.“

Seine Begleiter nicken: Trotz aller Versprechen, nicht anzugreifen, spiele das Militär mit den Kidnappern Katz und Maus und zwinge sie so, sich mit ihren Geiseln immer tiefer in den Dschungel der Insel zurückzuziehen. „Die Abu-Sayyaf-Leute wollen ihre Gefangenen nicht töten“, glauben die Unterhändler vor Ort, „aber vielleicht können sie es nicht verhindern.“ Nur Mutalib und seine Kollegen sind sich sicher, die Psyche der Entführer zu kennen: „Es sind einfache Leute, man kann sie leicht beeinflussen“, sagt er.

Da Entführungen in Jolo und anderen Regionen Mindanaos zur Tagesordnung gehören, hat Nur Mutalib in den vergangenen Jahren häufig über die Freilassung von Geiseln verhandeln müssen. Die Opfer waren meist reichere Filipinos, aber auch einige Ausländer. Das Procedere, berichtet Nur Mutalib, sei immer das gleiche. „Wir nehmen mit den Kidnappern Kontakt auf, dann wird ein Preis für die Freilassung genannt. Den handeln wir kräftig herunter.“ Am Ende zahlt die betroffene Familie dann etwa 20.000 Pesos (rund 1.100 Mark) „für Kost und Logis“. So wahrt jeder sein Gesicht: Die Entführer – und die Regierung, für die es Lösegeldzahlungen offiziell nicht gibt. Erst am Wochenende ist Patrick Viray, ein junger philippinischer Bankangestellter aus Jolo, auf diese Weise nach dreimonatiger Gefangenschaft freigekommen.

Der Fall der 21 Geiseln aus Europa, Südafrika, Libanon, Malaysia und den Philippinen ist allerdings komplizierter. Die Europäer gelten als immens reich, und die Kidnapper haben in den letzten Tagen in Jolo „sehr viele Leute“ rekrutieren können, sagt Nur Mutalib. Die Beute will man sich teilen, heißt es.

Es gehört zu den Rätseln und Widersprüchlichkeiten in diesem Geiseldrama, dass nie ganz klar ist, wer eigentlich für die Regierung mit den Abu Sayyaf-Rebellen handelt. Während die Leute des Gouverneurs ihre Verbindungsleute zu den Kidnappern schicken, hat Präsident Joseph Estrada bereits andere Unterhändler bestellt: Dazu gehört der bekannte muslimische Gelehrte Ghasali Ibrahim, der am Dienstag zusammen mit dem früheren libyschen Botschafter Rajab Azzarouk direkt aus Manila nach Jolo flog, um über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln. Immerhin: Mutalibs Stab hat seit Beginn der Entführung nicht gewechselt.

Dass ausgerechnet der einstige libysche Botschafter nun auf Jolo verhandeln soll, ist kein Zufall. Nur vier Jahre ist es her, dass die Regierung in Manila – mit libyscher Vermittlung – ein Friedensabkommen mit der damals größten muslimischen Unabhängigkeitsbewegung schloss, der Moro National Liberation Front (MNLF). Statt einen unabhängigen islamischen Staat erhielten die Rebellen damals einen Teil der Insel Mindanao als „Autonome Region“ zugesprochen. Aus der Guerillabewegung wurde eine politische Organisation, Rebellenchef Nur Misuari und dessen Kampfgenossen wandelten sich zu Politikern und Beamten.

Libyen – Vermittlerrolle im Konflikt

Auch Unterhändler Nur Mutalib, ein Neffe des Gouverneurs, ist – wie ein großer Teil der ersten Generation von Rebellen, die seit den Sechzigerjahren gegen die Regierung gekämpft hatten – in Libyen ausgebildet worden. Er ist „Spezialist für die SAM-Abwehrraketen“. Seine zwei Kollegen, die jetzt kettenrauchend in dem kleinen Büro in Jolo sitzen, reichen ihre Visitenkarten rüber, zu lesen ist jeweils: „Generalmajor“ der MNLF.

Jolo ist in diesen Tagen ein deprimierender Ort. Grauer Himmel und Nieselregen, bewaffnete Polizei-Eskorten, die alle Journalisten in diesen Tagen zur Begleitung bekommen, damit sie nicht, wie ein Zivilpolizist sagt, „selbst entführt werden“. Die Stadt, die im Jahr 1974 von der philippinischen Armee in einer Offensive gegen die muslimische Guerilla fast völlig zerstört wurde, besteht heute nur noch aus einigen Straßen mit Häuserreihen aus gesichtslosem Beton und einigen offenen Märkten. Neben ungepflasterten Wegen stehen Bambushütten mit Stroh- oder Wellblechdächern. Fabriken wurden geschlossen. Ein geplantes Seetang-Verarbeitungswerk ist nie zustande gekommen.

Für die meisten einstigen Rebellen der MNLF blieb nur ein Job als Leibwächter oder Bandit – und der Weg in eine der beiden anderen Guerillagruppen, MILF oder Abu Sayyaf. Nicht wenige alte Kämpfer gehören deshalb heute zu den schärfsten Feinden ihres früheren Chefs Nur Misuari. Der ist längst zwischen alle Fronten geraten, weil ihm viele Bewohner der Region vorwerfen, „nur ein Politiker wie alle anderen zu sein“ und sich an Manila verkauft zu haben.

So ein Vorwurf ist in diesen Tagen gefährlich: Es wird zusehends deutlich, dass Präsident Joseph Estrada den Konflikt nutzen will, um sich als Hardliner bei der katholischen Bevölkerung zu profilieren. Als Estrada am Montag nach Mindanao zum Oberkommando der Armee für die südlichen Philippinen kam, besuchte er dort verletzte Soldaten und die befreiten Opfer eines zweiten Geiseldramas, das sich in den letzten Wochen auf der Nachbarinsel Basilan abspielte. Demonstrativ im militärischen Kampfanzug gekleidet, kündigte Estrada an, er werde Rebellion und Unabhängigkeitsbestrebungen künftig mit aller Härte bekämpfen.

Katholiken wollen den Kampf

Zamboanga ist seit der spanischen Kolonisation eine Hochburg der Katholiken im muslimischen Hinterland. So kam jetzt die Stunde der katholischen Bürgermeisterin dieser Stadt, Maria Clara Lobregat, die den Präsidenten aufrief, nur nicht zu zögern im Kampf gegen die Rebellen: „Es gibt eine Zeit für den Frieden und eine Zeit für den Krieg!“, rief sie. „Der Feind hat uns diesen bewaffneten Konflikt aufgezwungen, und die Regierung muss darauf antworten, indem sie das Schwert der Gerechtigkeit und der Vergeltung aus der Scheide zieht.“

Maria Clara Lobregat hält sich in diesen Tagen – von Bodyguards und zahlreichen Assistentinnen umgeben – häufig im Hotel Garden Orchid auf, wo ein Teil der internationalen Pressevertreter wohnt. Der Präsident habe ihr erzählt, vertraut sie ihnen an, „dass ihn die Bischöfe bedrängen, einen Waffenstillstand auszurufen“. Die Bürgermeisterin: „Aber ich habe ihm erwidert: Hören Sie nicht auf diese Leute, die haben keine Ahnung, was hier vor sich geht.“

Dabei sorgen Worte wie die von Bürgermeisterin Lobregat gegenüber den „muslimischen Banditen und Terroristen“ nur für mehr Widerstand – selbst unter moderaten Muslimen. „Niemand konnte uns jemals militärisch besiegen – die Spanier nicht, die Amerikaner während ihrer 50-jährigen Herrschaft über Manila in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht – und die philippinische Armee wird es auch nicht schaffen“, sagt Ali Aiyub, ein junger Dozent für Sozialarbeit, der eine muslimische Friedensgruppe namens Salam leitet. Die Gruppe trifft sich ab und an mit Christen, „um über eine Versöhnung und ein gutes Zusammenleben“ zu diskutieren. Aiyub: „Das Problem lässt sich nur politisch lösen – vielleicht durch eine Föderation.“

Die Zeit arbeitet für die Extremisten unter den muslimischen Rebellen. Im Süden von Mindanao etwa, in der Region um die Städte Cotabato und General Santos, kämpfen derzeit rund 15.000 MILF-Aufständische gegen die Regierung. Und finden immer mehr Zulauf.

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