Beenden „gute“ Bosse das Gezerre?

Die offizielle Entschädigungsstiftung der Industrie kommt nicht vom Fleck. Daher packt Demokratiepreisträger Lothar Evers jetzt die von Zwangsarbeit „unbelasteten“ Unternehmer an der Ehre: Macht Schnellentschädigung möglich! Dissens über Opfer

von CHRISTIAN SEMLER

Am Anfang herrschte allgemeine Verwirrung. Welches Dokument sollte der Innenausschuss des Deutschen Bundestages, der sich erneut den Kopf über die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter zerbrach, seinen Beratungen eigentlich zugrunde legen? Den Gesetzentwurf vom März? Oder den Flickenteppich von Entwurf, in den das Finanzministerium den jüngsten Stand der internationalen Verhandlungen einzuarbeiten versuchte? Das war keineswegs eine nur prozedurale Frage. Denn zwischen März und Mai hat sich die Gewichtung der Opfergruppen ein weiteres Mal verschoben. Jetzt zuungunsten des „Rests der Welt“, mit welcher unschönen Bezeichnung all diejenigen Zwangsarbeiter gemeint sind, die weder zur Gruppe der ost- und ostmitteleuropäischen noch der durch die Jewish Claims Conference vertretenen Zwangsarbeiter gehören.

Der „Rest der Welt“ ist bei den internationalen Beratungen bislang gar nicht vertreten. Es wäre auch schwierig, internationalen Organisationen wie dem UNHCR nachträglich einen Sitz einzuräumen. Denn die Interessen der Opfergruppen stehen naturgemäß gegeneinander. Im „Rest“, vor allem Südosteuropa, ist die Schätzung der noch lebenden Opfer der Zwangsarbeit besonders schwierig. Lutz Niethammer, Historker und Experte auf dem Gebiet der Opferstatistik, hat für die gesamte Opfergruppe „Rest der Welt“ gestern einen Fehlbetrag von 540 Millionen Mark ausgerechnet.

Gerechtigkeitslücke

Woher das Geld nehmen? Der Anteil von „Jewish Claims“ soll aufgestockt werden. Aber wer zahlt für die anderen? Die Gruppe der Ost- und Ostmitteleuropäer wird kaum von der ihr zugestandenen Globalsumme abrücken. Denn sie steht vor der Aufgabe, aus dem Fonds den in der Landwirtschaft eingesetzten Zwangsarbeitern zu einer vertretbaren Entschädigung zu verhelfen. Es klafft also, wie der bündnisgrüne Abgeordnete Volker Beck konstatierte, eine Gerechtigkeitslücke.

Der Streit um Verteilungsgerechtigkeit hatte zugleich etwas Gespenstisches. Denn noch fehlt es an dem, was überhaupt zu verteilen wäre. Manfred Gentz, Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, konnte gestern nur feststellen, dass immer noch knapp 2 der von den deutschen Unternehmern zugesagten 5 Milliarden Mark fehlen. Ein weiteres Mal beklagte er, dass jetzt privatisierte ehemalige Staatsunternehmen der „Staatsseite“ von 5 Milliarden DM zugeschlagen würden. Ein weiteres Mal weigerte er sich auch, Namenslisten der „Verweigerer“ zu veröffentlichen. Er beharrte auf dem Prinzip der „Freiwilligkeit“. Und er forderte, gerade so, als ob er unter keinerlei Zeitdruck stünde, die Einstellung bzw. Niederschlagung aller Zivilklagen, die seitens der Opfer gegen deutsche Firmen anhängig sind. Damit ist ausgeschlossen, dass der Prozess der Registrierung von Anspruchsberechtigten schon jetzt anlaufen kann – aus den Zinsen der bisher akquirierten 2 Milliarden.

Gentz zeigte sich auch taub. Zum einen gegenüber denr von den Grünen und der PDS erhobenen Forderung, aus dem Kreis der Gründer der Unternehmer-Stiftungsinitiative eine rechtsverbindliche Zahlungsverpflichtung, sprich eine Bürgschaft abzugeben. Zum anderen wies Gentz (wie die Regierung) auch ein anderes, wirksames Druckmittel zurück – die Beschränkung der „Rechtssicherheit“ (siehe Kasten), also des Schutzes vor doppelter Zahlung, auf die Firmen, die dem Fonds beitreten.

Hans-Jochen Vogel und Lothar Evers, Sprecher der beiden wichtigsten deutschen Bürgerinitiativen für die Belange der Zwangsarbeiter, konnten gestern nur mühsam der Empörung über diesen Stand der Dinge Herr werden. Sie schilderten die Diskrepanz zwischen der spontanen Spendenbereitschaft von Menschen, die oder deren Firmen niemals von der Zwangsarbeit profitiert hatten, und der Hartleibigkeit der ehemaligen Profiteure. Evers selbst hat für seine Initiative daraus Konsequenzen gezogen. Der gerade von den Blättern für deutsche und internationale Politik mit einem Demokratie-Preis ausgezeichnete Evers forderte „unbelastete“ Unternehmer auf, nicht mehr in den Fonds der Stiftungsinitiative zu spenden. Sie sollten ihr Geld besser einer Initiative zuzuwenden, die unmittelbar mit den Auszahlungen beginnen würde.