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Ein Schlachtfeld der Liebe

18 Jahre alt – und doch kein bisschen öde: Pina Bauschs einst wegweisende Choreografie „Nelken“ am Schauspielhaus  ■ Von Annette Stiekele

Zartrosa Nelken – ein riesiges Feld davon, 7000 Stück insgesamt – empfingen die Besucher der Gastspielpremiere des gleichnamigen Stückes von Pina Bausch und ihres Tanztheaters Wuppertal im Schauspielhaus. Von seiner Schönheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit hat das Stück, obschon achtzehn Jahre alt, nichts eingebüßt. Und so wurde es ein triumphaler Empfang für die einstige Rebellin und Pionierin des Tanztheaters.

Das Blumenmeer auf der um drei Reihen vergrößerten Bühne (Bühne: Peter Pabst) bildet am Anfang eine einzige Wiese, die von vier Wachmännern mit Schäferhunden bewacht wird. Durch ihn suchen sich im Lauf des Stückes die zwölf Tänzerinnen und vierzehn Tänzer ihren Weg. Die Männer stecken wie immer in strengen Anzügen, die Frauen in klassischen Abendkleidern (Kostüme: Marion Cito) mit dem Bausch-typischen Nachthemdcharakter.

Nacheinander tragen sie Stühle in das Feld. Noch herrscht Harmonie zwischen den Geschlechtern und Schuberts Streichquartett verbreitet im Hintergrund eine paradiesische Idylle. Einer nach dem anderen steigt in den Zuschauerraum und führt eine Herzensdame oder einen -herrn hinaus. In vielen kleinen, oft tragikomischen Szenen – wie die eines Mannes, der eine flüchtende Frau immer wieder anspringt – werden Liebessehnsucht und Glückseligkeit gespiegelt. Doch die Verlorenheit im Gefühl bleibt bei Bausch, der es in all ihren Stücken stets um die Fülle des Lebens geht, nicht ohne Widerspruch.

Nelken verschweigt nicht die Schattenseiten, die unerfüllte Sehnsucht, den Verlust, die Irritation oder gar die Zurückweisung, wenn die Darsteller nacheinander an den Bühnenrand rennen und den Zuschauern stereotype Aussagen über die Liebe entgegenbrüllen. „Ich bin allergisch gegen Liebe“ oder „Nelken kommen selten allein“ oder am Ende „Ich hasse Nelken“. Häufig gleicht da das Feld der Liebe eher einem Schlachtfeld, einem verlorenen Paradies, in dem die Männer aus lauter Verzweiflung ihre Häupter in einen Haufen geschälter Zwiebeln versenken. Sehr genau hat Bausch die scheinbar unüberwindbaren Widerstände zwischen den Geschlechtern beobachtet und in eine Sprache der nicht eingelösten Sehnsüchte übersetzt.

Das Bewusstsein des Möglichen scheint dabei immer durch. Die Konflikte und die Qual der existentiellen Einsamkeit stellt sie in manchmal hysterischen Ausfällen und ständig schwankenden Stimmungen dar. Wo man seine Seele entblößt, lauert die Gefahr und die Angst, damals wie heute. Zentrales Darstellungsmittel ist neben den vielen ges-tisch feinen Situationen die Taubstummensprache, in der zum Beispiel Lutz Förster – Kompaniemitglied der ersten Stunde – den Gersh-win-Song „The man I love“ interpretiert. Vielleicht gilt Nelken deshalb als Bauschs Signaturstück, weil es in so einzigartig suggestiver Weise menschliches Streben nach Zweisamkeit und die Zurückgeworfenheit auf die nackte Existenz reflektiert. Ohne dabei jemals seine Schwerelosigkeit zu verlieren.

Später tauchen Taubstummengesten wieder auf, wenn es um die vier Jahreszeiten geht, die vom Ensemble in einen Reigen vom Frühling, in dem alles wächst bis zum kältestarren Winter übersetzt werden. Immer wieder verzaubert das 26-köpfige Ensemble mit seinen starken Charakteren und seinem Charme. Junge Neuzugänge spielen gleichberechtigt neben den Erfahrenen, unter ihnen einige der ersten Stunde, Helen Pikon, Jan Minarik und der großartige Lutz Förster, der nach einem Vierteljahrhundert in Hamburg zum letzten Mal auf der Bühne steht. Neben den großen Gefühlen ist die Schikane der Grenzkontrolle ein zentrales Motiv: In Zeiten einer einerseits grenzenlosen EU, die sich gleichzeitig in Abschottung gegenüber Dritten übt, gewinnt es eine neue Bedeutung.

Ein Kontrolleur verlangt von allen Mitspielenden immer wieder den Pass zu sehen. Um ihn zurückzuerhalten, müssen sie ein demütigendes Spießrutenlaufen auf sich nehmen. Die Männer hüpfen wie Karnickel durch das Nelkenfeld, angetan mit kurzen Frauenkleidern, die Frauen, die noch weiter unten in der „Rangordnung“ stehen, werden aufgefordert, nicht auf Tischen, sondern nur darunter zu tanzen. Auch die beiden hohen Türme – früher oft als Wachtürme des Todesstreifens interpretiert – haben ihre Bedeutung eingebüßt. Der Sprung der Stuntmen, die sich todessturzartig in einen Stoß Pappkartons fallen lassen, wirkt deshalb nicht weniger spektakulär.

Auch wenn die Inszenierung keine Überraschungen mehr bietet und längst andere Choreographen und Regisseure – man denke da auch an Christoph Marthaler – Pina Bauschs Sprache aufgenommen und weiterentwickelt haben, ihre Kraft und Neugier scheinen bei diesem Klassiker immer noch durch. Die Hamburger dankten es ihr mit tosendem Applaus und Standing Ovations.

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