piwik no script img

Groß oder schrecklich?

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich die Erneuerung Russlands auf die Fahnen geschrieben. Doch sein Modernisierungsprojekt beruht auf historischer Selbsttäuschungvon BORIS SCHUMATSKY

Alle Erneuerer des russischen Staates von Iwan dem Schrecklichen bis Jossip Stalin mussten sich gegen erbitterten Widerstand durchsetzen. Wladimir Putin nicht. Seine Gesetzesvorlagen zur Liberalisierung der Wirtschaft und der Reform des Staatswesens wurden im Parlament mit Zweidrittelmehrheit beschlossen. Eins hat der neue Präsident indes mit seinen Vorgängern gemein. Russische Reformer stützten sich nie auf die gesellschaftlichen Reformkräfte. Sie glaubten, über eine viel mächtigere Stütze zu verfügen: die absolute Macht, an der letztlich alle Modernisierungspläne scheiterten.

Wladimir Putin interessiert sich nicht für seine Vorgänger auf dem russischen Thron. Nach Stalins Gewaltherrschaft gefragt, reagierte der Präsident mit Gleichgültigkeit, er habe einfach nicht daran gedacht. Putin hat andere Vorbilder: General Augusto Pinochet oder Südkoreas Park Chung Hee. Überdies liefern regierungsnahe Medien moralische und ideologische Entlastung. Nach ihrer Rechnung fielen „nur“ ein paar tausend Menschen den chilenischen Militärs zum Opfer. Putins wirtschaftlicher Stratege Germann Gref vergleicht sein liberalistisches Programm mit dem „fünfzehnseitigen Memorandum der chilenischen Reformer“. Bewusst suggerieren die „Modernisierer von oben“ ihre geistige Nähe zu südostasiatischen und lateinamerikanischen Zwangsmodernisierern und Militärjuntas. Dennoch überwiegt die einheimische Handschrift in den Erlassen des neuen Präsidenten.

Der erste russische Zar Iwan IV. hatte sich den Beiname „der Schreckliche“ im erbitterten Kampf gegen die „Bojaren“ verdient. Der feudale Landadel und Regionalfürsten standen dem Ausbau eines modernen, absolutistischen Staates im Wege. Die „Oprichnina“ – Iwans Privatarmee – terrorisierte sieben Jahre lang die Provinzen, plünderte Dörfer und mordete Adelsfamilien. Wladimir Putin plant keine Raubzüge gegen seine Regionalfürsten, die gewählten Gouverneure. Eine Privatarmee erhält der Präsident trotzdem. Die regionalen Streitkräfte des Innenministeriums samt Panzertruppen und Artillerie sollen ihm direkt unterstellt werden.

Manche Gouverneure in der Russischen Föderation sind korrupt, manche herrschen wie Despoten über ihre Gebiete und Teilrepubliken. Die Reform des Bundesstaates ist an der Zeit. Putins Maßnahmen indes haben mit Rechtsstaatlichkeit wenig zu tun. Wie einst Zar Iwan ignoriert der neue Präsident das geltende Recht und setzt allein auf seine persönliche Macht.

Den Kampf gegen den Landadel hatte Zar Iwan IV. nicht gewinnen können. Der einzige Sieg seiner Truppen war die Zerstörung von Nowgorod. Die größte Handelsrepublik Russlands wurde dem Erdboden gleichgemacht, tausende ihrer Einwohner massakriert. Nach Iwans Tod herrschten in Russland jahrzehntelang Chaos und Bojarenwillkür. Einhundert Jahre später musste Zar Peter I. den erneuten Modernisierungsversuch wieder mit dem Kampf gegen den Landadel beginnen. Peters Russland war ein zentralistischer Staat, dessen Verwaltungsgremien allein dem Monarchen unterstellt waren. Mit mittelalterlicher Brutalität nahm der Zar seinen Untertanen die letzten Freiheiten und zwang sie, seiner wuchernden Staatsmaschinerie zu dienen.

Es steht zu befürchten, dass Putins institutionelle Reform ähnliche Folgen zeitigen könnte. Zar Peter teilte Russland in acht Gouvernements auf, Präsident Putin in sieben. Wie bei Peter sollen die Statthalter Finanzen, Verwaltung und das Militär kontrollieren. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte hatte Peter der Große seine Armee auf Garnisonen im Inland verteilt. Putins sieben „Föderale Bezirke“ sind so geschnitten, dass sie mit den Militärbezirken fast identisch sind. Die von Boris Jelzin favorisierte Berufsarmee wäre für Putins Zwecke zu klein. Die Wehrpflicht, die Zar Peter vor dreihundert Jahren eingeführt hat, wird auch weiter bestehen.

Zar Peter wird in Russland als großer Reformer verehrt, obwohl er Gewalt über Recht setzte. Er modernisierte das russische Staatswesen, indem er die Gesellschaft unterdrückte. Die Leibeigenschaft wurde in Russland erst 1861 abgeschafft, die ersten Parlamentswahlen fanden 1906 statt. Diese Reformen kamen zu spät. Die Revolution stürzte Russland ins Chaos, aus dem die Sowjetunion Stalins auftauchte. Putin distanziert sich vom Erbe des Großen Führers. Dennoch scheint er Stalins Methoden genau studiert zu haben. Seine jüngsten Maßnahmen ähneln denen Stalins, als dieser noch um den Kreml kämpfte.

Der zukünftige Diktator schickte seine Leute in die Provinz, in die Parteikomitees und die Räteversammlungen. Die Apparatschiks mussten ihre Berichte in Geheimschrift abfassen, zu der allein Stalin den Schlüssel hatte. Die Macht über die Parteibürokratie nutzte der Führer des Volkes, um seine Rivalen zu eliminieren und dann das Land einer gewaltsamen Modernisierung zu unterziehen. Auch Putin setzt seine Leute auf Schlüsselposten. „Die Vertikale der Macht“, die sie aufbauen sollen, könnte sich als folgenschwerer Euphemismus für Stalins Apparat entpuppen. Putins Russland soll geschlossen hinter ihm stehen. Wer aus der Reihe tanzt, ist „Verräter“ und „Feind Russlands“. Der neue Präsident hat sich Stalins politischen Jargon zu Eigen gemacht und bezeichnet seine Kritiker als „provokative Elemente, die die Gesellschaft spalten wollen“. Es ist ein alarmierendes Omen, wenn die Präsidentenpartei „Einigkeit“ Parteizellen in allen Betrieben bilden will und eine Jugendorganisation aus der Taufe hebt, die in Anlehnung an den Kommunistischen Jugendverband vom Volksmund schon als „Putinomol“ verballhornt wird. Putins leichter Sieg bei den Parlaments- und zuletzt bei den Präsidentenwahlen bedeutet nicht, dass Russland durch den Glauben an einen modernen Zaren oder Führer wieder geeint wäre. Putins Modernisierungsprojekt beruht auf Selbsttäuschung: Der Kreml ist nicht mehr der Sitz der absoluten Macht. Die modernen Bojaren – Finanzmoguln und Regionalfürsten – versuchen jetzt schon, Putins Machtanspruch zu unterminieren. Auf die ersten Ansätze von Opposition reagiert der Kreml mit übertriebener Härte. Sechzehn Gouverneure sollen bald „auf der Anklagebank sitzen“, andere ihnen folgen.

Die Methoden Stalins oder des Zaren Iwan IV. werden jedoch nicht die alte Wirkung erzielen. Ein Polizeistaat à la Pinochet lässt sich in der Russischen Föderation auch nicht durchsetzen: Die Blamage in Tschetschenien belegt das. Weder die Regionen noch eine Mehrheit der aufgeklärten Bürger würden freiwillig auf ihre Verfassungsrechte verzichten. Deswegen ist eine autoritäre Modernisierung, wenn auch mit liberalistischem Anstrich, zum Scheitern verurteilt. Der zweite Präsident Russlands hat keine Chance, als Wladimir der Große in die Geschichte einzugehen. Womöglich aber als Wladimir der Schreckliche.

Hinweise:Wie einst Zar Iwan ignoriert Putin das geltende Recht und setzt allein auf seine persönliche MachtDie Methoden des Zaren Iwan oder des Diktators Stalin werden nicht die alte Wirkung erzielen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen