stille revolution: Grüne kühner mit Kuhn und Künast
Der äußere Anschein spricht dagegen. Trotzdem war dieser Parteitag spektakulär – nur dass sich das Spektakel weitgehend ohne Geschrei vollzog. Was alles ausfiel: eine flammende Fischer-Rede, ein Kampf um den Atomkonsens und überraschende Wahlergebnisse – selbst Rezzo Schlauch ahnte die ihm drohende Demütigung wohl im Voraus. Alles ruhig im Münsterland? Nein, erst durch die äußere Harmonie konnte in Münster ein Veränderungsprozess seinen Anfang nehmen, der so kühn ist, dass er eine stille Revolution darstellt.
Kommentarvon PATRIK SCHWARZ
Kuhn und Künast (K.u.K.) verordnen ihrer Partei ein elftes Gebot: Verachte mir den Bürger nicht! Gerhard Schröder hat damit die SPD an die Macht geführt. Für die Mehrheit linker Volksverächter war dieser Imperativ lange Zeit unvorstellbar. Parteikader, die heute noch so denken, werden den K.u.K.-Kurs als Kulturrevolution erleben. Doch die neuen Vorsitzenden drücken nur aus, was inzwischen ein beträchtlicher Teil der Grünen meint. Es gibt immer mehr Mitte in der Partei, sagte Künast am Wochenende, dadurch bleibe der Kopf zum Denken frei. Seit Münster bestimmt dieser Common Sense erstmals Programm und Strategie der Grünen.
Das neue K.u.K.-Team bietet somit das Beste, was man einer Partei in der Orientierungskrise geben kann: ein zeitgemäßes Weltbild. Seit die Grünen in Sichtweite der Macht den Fünf-Mark-Beschluss fassten und dann widerriefen, rennt die Partei dem Zeitgeist hinterher, doch Möllemann ist vorher da. Jetzt können die Grünen Abschied nehmen von einer linken Ursünde: Abstrakt wird das Volk verehrt, aber verachtet, wenn es gerne Auto fährt. Wer heute im Stau steht, will nicht auch noch hören, dass ihm das recht geschieht. Schlauchs jüngste Hymne auf das Auto fiel zwar noch zu krass aus – entsprechend wurde er abgestraft. So war auch in Münster das alte Feindbild manchmal stärker als das neue Denken. Der Diplomat Kuhn dagegen versprach Wählern und Parteimitgliedern eine Politik der neuen Mobilität – weil das, was auf unseren Straßen stattfinde, Schwachsinn sei. Es klingt wie Bild, ist aber klüger: Die neuen Grünen wollen Staus auflösen, nicht Autofahrer geißeln.
Die stille Revolution ging ohne Gemetzel ab. Die Linke streckte freiwillig die Waffen, die Realos ließen ihre stecken. Trotzdem entspricht der Geist vom Wochenende eher dem Denken der Realos, einst verbreitet im Vordenkerblatt Pflasterstrand: Unter dem Pflaster vom Münsterland, da liegt der Strand.
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