berliner szenen: Am Potsdamer Platz
Kunst und Sushi
Allein in einer Galerie zu stehen und von den beiden anwesenden Galeristen dabei beobachtet zu werden, wie man sich ihre Ausstellung ansieht, ist sicher nicht nur mir äußerst unangenehm. Was sollen sie von einem Menschen denken, der sich, während andere arbeiten gehen, in ihrer Galerie herumtreibt? Will er auf diese Weise von seinem Schlendrianleben ablenken? Wer sieht sich denn heute noch Bilder an? Es kennt doch schon kaum noch jemand jemanden, der ins Theater geht. Und da passiert wenigstens manchmal etwas.
Durchs Fenster der Galerie am Potsdamer Platz sieht man den Potsdamer Platz. Ich habe hier zum ersten Mal im Leben Sushi gegessen. Neben mir saß eine frustrierte Russin. Nach meinem ersten Happen rechnete ich hoch, dass ich ungefähr 100 Mark ausgeben müsste, um hier satt zu werden. Die Russin dagegen stapelte einen nach dem anderen von den teuren schwarzen Tellern übereinander und wirkte immer frustrierter, weil sie immer satter wurde, aber nicht glücklicher.
Immerhin hatte sie noch ein Gefühlsleben, im Gegensatz zu den Bayern, die draußen Bier tranken und auf eine Vorstellung des „Glöckner von Nôtre Dame“ warteten. Das ist das neue Berlin, denken sie, und man muss ihnen wohl zustimmen, wenn man über den Potsdamer Platz geht, aber was war noch mal das alte Berlin? Wenn man es draußen schon nicht entdecken kann, ist man froh, etwas davon in den Bildern von Otto Nagel zu finden, die momentan in der Galerie am Potsdamer Platz ausgestellt sind.
Früher wurde Nagel in einem Atemzug mit Käthe Kollwitz und Heinrich Zille genannt, es gab sogar ein Otto-Nagel-Haus am Märkischen Ufer, das 1995 geschlossen wurde. Heute werden sich vor allem noch DDR-Schüler an diesen Maler erinnern. Denn von ihm ist das Bild mit dem alten Arbeiter, der sich zu seinem Geburtstag einen Nachmittag lang nach draußen setzt, mit Schaukelstuhl und Sonnenschirm. Es war nicht schwer zu interpretieren, auf Armut, Würde und Charakter hinzuweisen reichte für eine gute Zensur. Inzwischen kann man diese Bilder auch gut finden, man muss nicht mehr bemüht sein, sich gegen die Meinung der Lehrer abzusetzen, die noch nie etwas von Dalí gehört haben.
Die Zeit dieser stillen, von sozialer Erfahrung gesättigten Kunst wird wiederkommen, wenn die Künstler wieder lernen, die Welt zu sehen, statt Edeldesign zu produzieren, das Einrichtungsgegenständen nicht einmal mehr die Aura des Nutzlosen voraus hat.
Man wird ganz wehmütig, wenn man sich bewusst macht, dass es einmal eine Zeit gab, in der es stolz klang, ein Bild „Siebzigjährige Proletarierin“ zu nennen. Oder die Gäste einer „Budike“ im Wedding zu malen, in der die kommunistische Partei mit Filmprojektionen für Kultur sorgte.
Die Zeiten sind vorbei, heute sorgt ein Musicaltheater für Kultur, die Menschen haben keine Gesichter mehr, und die letzten Proletarier sehen aus wie der Feinblechner Jürgen von „Big Brother“, der bei Ford arbeitet und sich nicht vermarkten lassen will. Aber warum sollte man den malen?
J. Sch.
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