IN DIESEM JAHR PROKLAMIEREN DIE PALÄSTINENSER IHREN STAAT: Viel heiße Luft
Stell dir vor, der Staat Palästina wird ausgerufen, und nichts passiert. Eine ebenso missliche wie erschreckende Perspektive. Denn seit Wochen werden die Kriegstrommeln geschlagen, auf israelischer wie auf palästinensischer Seite. Der gewünschte Eindruck: Am Tag danach wird alles anders. Von einer neuen Intifada ist die Rede, von palästinensischen Polizisten, die Siedler an der Durchfahrt ins Kernland hindern oder ihnen den Weg in die Siedlungen verlegen. Und israelische Militärs drohen damit, Panzer und Kampfhubschrauber ins Gefecht zu schicken. Ein düsteres Szenario, das schlicht unrealistisch ist. Keine der beiden Seiten kann ein Interesse an der jetzt so vielfach beschworenen Konfrontation haben. So mühsam und schleppend sich der Friedensprozess voranbewegt – er wird trotzdem nicht aufgehalten, welche Daten auch immer für den Tag der palästinensischen Staatsproklamation ins Spiel gebracht werden.
Zwar hat sich eine Mehrheit des Palästinensischen Zentralrats für den 13. September ausgesprochen, den Tag, an dem ein Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina unterschrieben werden soll. Doch nicht ohne Grund hat sich Jassir Arafat die Option einer erneuten Verzögerung offen gehalten. Möglich ist der 15. November, der Tag, an dem die PLO 1988 in Algier erstmals einen eigenen Staat proklamiert hat. Das würde Arafat immerhin zwei Monate Zeit für weitere Verhandlungen schaffen. Der Termin kommt nicht zufällig, denn im November werden die Amerikaner an die Wahlurnen gerufen, und Präsident Clinton gibt seine letzte Vorstellung. Sollte bis November kein Durchbruch erkennbar sein, wird es Monate dauern, bevor ein erneuter Gipfel mit Hilfe des neuen Chefs im Weißen Haus einberufen wird. Gerade um dann das zweifellos zu Recht frustrierte palästinensische Volk bei der Stange, sprich: fern von der Gewalt zu halten, muss eine Alternative zum Friedensvertrag kommen. Die Staatsdeklaration, so folgenlos sie zunächst bleiben wird, kann ein Ausweg sein. Bei den Palästinensern wiegen Symbole und Mythen schwer.
Eine Staatsdeklaration könnte die Anliegen der Palästinenser auf der internationalen Bühne befördern. Mit der Anerkennung Amerikas und Europas im Rücken, so die palästinensische Rechnung, stünden ihnen viel stärker als bisher Mittel zur Verfügung, die sie für ihr berechtigtes Anliegen nutzen können. Gewalt würde das Gegenteil bewirken und anstelle der Solidarität das alte Image des Palästinensers mit Kuffiyeh und Kalaschnikow wiederaufleben lassen. SUSANNE KNAUL
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