: „Ohne Gesang geht bei uns gar nichts“
Das indische Kino hat nach Hollywood das größte Publikum der Welt. Seine Musicals sind so keusch wie eh und je, doch eine jüngere Generation von Regisseuren sorgt jetzt für Bewegung. Der Filmemacher Sanjay Leela Bhansali im Gespräch über kapriziöse Stars, Mafiamorde und die Massenhysterie
Das kommerzielle Bollywood-Kino hat weltweit ein gigantisches Vertriebsnetz – von Saudi-Arabien bis Südafrika. Wie kommt es, dass die westliche Welt diese Filme aber immer noch weitgehend ignoriert und als Kitsch abtut?
Bollywood-Filme sind eine Mischung aus Theater, Film und vielen anderen Formen traditioneller indischer Volksunterhaltung. Die Kombination so vieler Elemente wirkt auf ein westliches Publikum nicht immer cinematografisch, auch weil viele Anspielungen nicht entschlüsselt werden können. Für die so genannten indischen „Formular-Filme“ gibt es zudem jede Menge Regeln, die unser Publikum verlangt, die aber außerhalb des Landes kaum Gültigkeit haben. Das beginnt bei den Stoffen: In Bollywood ist man der festen Überzeugung, dass unser Publikum eigentlich nur drei, vier Geschichten in unendlicher Variation sehen will. So etwas engt natürlich sehr ein. Ich habe mich in meinem lezten Film „Hum dil de chuke sanam“ zum Beispiel für die klassische Dreiecksgeschichte entschieden, weil der Markt es einfach so verlangt. Bei Kriegsfilmen ist das viel schwieriger, aber ohne Gesang geht bei uns gar nichts und erst recht kein erfolgreicher Film. Unser Publikum kommt ja vor allem wegen Song-and-Dance-Szenen ins Kino!
Warum beschweren sich eigentlich immer alle über das indische Publikum und seine Vorlieben? Kann man sich denn etwas Besseres wünschen, als wirklich kinosüchtige Zuschauer, die oft 1.000 und mehr Songs auswendig können? Ist es nicht eine überaus gebildete Form der Rezeption, wenn zum Beispiel die Lyrik der Songtexte ein ganz wesentliches Kriterium der Filmbeurteilung ist?
Ja, das stimmt, aber trotzdem gibt es da einfach eine folgenschwere Konfusion. Die Bedeutung, die den Gesangseinlagen gegeben wird, macht einfach aus jedem Film ein Musical, und das verhindert die Entwicklung anderer Genres im populären Kino.
Hinzu kommt, dass die inzwischen schon 70-jährige Lata Mangeshkar als „Stimme der Nation“ das gesamte Filmbusiness dominiert. Ist es nicht absurd, dass Mangeshkar ihre Stimme sechzehnjährigen Schauspielerinnen für die Songszenen leiht?
Aber jede Schauspielerin ist genau darauf erpicht, denn mit Lata Mangeshkar ist die Popularität einer Newcomerin so gut wie sicher. Tatsächlich hört man ja bei uns Bollywood-Songs den ganzen Tag im Radio, im Fernsehen, jede Hausfrau trällert sie beim Kochen vor sich hin, und jeder verliebte Collegestudent singt sie der Angebeten vor. Wie können wir da verlangen, dass man unsere Filme beispielsweise auf internationalen Filmfestivals ernst nimmt? Haben wir mit unseren Filmen denn überhaupt irgendwelche Aussagen, beispielsweise über unsere Gesellschaft, zu machen? Erzählen unsere Filme etwas über tiefe menschliche Gefühle? In Bollywood dreht sich zur Zeit alles nur ums Geld. Mit dieser Haltung sind Veränderungen nur sehr bedingt möglich.
Derzeit findet aber doch so etwas wie ein Generationenwechsel statt. Könnten nicht von diesen jüngeren Leuten, zu denen Sie ja auch zählen, neue inhaltliche Impulse ausgehen?
Mein Gefühl sagt mir, dass sich da ein Umbruch anbahnt, aber es wird noch mindestens fünf Jahre dauern, bis die Industrie merkt, dass das Publikum der ewigen „Formular-Filme“ überdrüssig ist. Ein Problem dabei ist, dass unser Publikum so divergent ist. Die Leute vorne auf den billigen Plätzen leben schlicht in einer anderen Welt als die Zuschauer auf den teuren Balkonplätzen. Zwar sind sie alle Inder, aber völlig unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Herkunft. Wie kann ich als Filmemacher die völlig unterschiedlichen Ansprüche eines Bauern aus Nordindien, der kein Hindi versteht, gleichzeitig mit denen einer kosmopolitischen, englischsprachigen Ärztin aus Bombay bedienen? Ich muss Kompromisse machen. Denn schließlich sollte ein erfolgreicher Film allein in Bombay in mindestens 25 Kinos gleichzeitig laufen.
Neulich traf ich einen Produzenten, der mir sagte, er würde seinen Töchtern und seiner Frau niemals erlauben, ein Studio zu betreten. Geht es in Bollywood tatsächlich noch so zu, dass Frauen, die um ihren Ruf fürchten müssen, die Studios besser meiden, oder sind das alte Ressentiments?
Immerhin gehört ja heute die Enkelin des vielleicht größten indischen Schauspielers, Raj Kapoor, zu unseren Topstars, das spricht wohl für sich. Raj Kapoor hätte vielleicht vor 15 Jahren noch verhindern wollen, dass seine Enkelin Karishma Schauspielerin wird, aber heute findet man allenthalben Töchter aus sehr angesehenen Familien in der Industrie. Die ehemalige Miss World, Aishwarya Ray, ist ein weiteres Beispiel, sie hat durch ihre tadellose familiäre Herkunft entscheidend dazu beigetragen, dass dieses Tabu immer weiter gelockert wird. Außerdem trifft man heute immer häufiger auf Regieassistentinnen, weibliche Toningenieure – da ändert sich was.
Indische Stars sind für ihre „tantrums“ – hysterische Wutanfälle – und komplizierten Launen berühmt. Wie sieht denn so ein typisches „tantrum“ aus?
Das beginnt eigentlich an dem Tag, wo ich als Regisseur dem Star das Drehbuch zur Lektüre bringe. Dann sagen sie alle zuerst einmal: Tut mir leid, ich habe keine freien Termine! Selbstverständlich muss ich dann sagen: Keine Sorgen, wir nehmen Rücksicht und arbeiten gemeinsam den Drehplan aus. Das zweite „tantrum“ kommt, wenn sie ihre exorbitanten Gagenforderungen stellen. Hierzulande glaubt man, dass allein die Stars für den Erfolg eines Films zuständig sind. Und es stimmt, dass große Namen die Massen ins Kino ziehen, aber wenn der Film schlecht ist, wird er nach einer Woche trotzdem aus dem Programm genommen. Die Stars sehen das nicht ein, sie halten sich für viel wichtiger als die Regisseure. Bei den Dreharbeiten geht das so weiter: Unsere Stars spielen ja oft in bis zu 20 Filmen gleichzeitig, und entsprechend oft tauchen sie einfach nicht am Set auf, weil sie hier einen Nachdreh haben und dort bei einer Galashow auftreten müssen. Es ist ein extrem hektischer Lebenswandel, es wird jeden Tag, auch sonntags, gedreht, meistens in zwei Schichten. Die Schauspieler kommen nie zum Nachdenken über ihre Rollen und sind ständig von 200, 300 Leuten umgeben, die ihnen überall rote Teppiche ausrollen. Darüber verlieren sie natürlich jeden Bezug zur Realität. Und die sieht für mich als Regisseur so aus, dass ich mit 150 Leuten in fertiger Kulisse warte und warte und warte.
Es gibt ein Thema, über das man in den vielen indischen Fan-Zeitschriften nie etwas liest. Die Bollywood-Industrie ist bekanntermaßen auch eine große Geldwaschanlage. Die Mafia, so hört man, kontrolliere ganz entscheidend den Gang der Dinge . . .
Darüber möchte ich lieber nicht reden. Die Mafia ist für sich ein Riesenproblem, es ist wie ein Trauma – aber niemand weiß so recht Bescheid. Um ein Beispiel zu geben: Als jüngst der Blockbuster „Kahoo naa . . . Pyaar Hai“ ins Kino kam, wurde kurz nach der Premiere der Regisseur Sooraj B. Barjatya auf offener Straße erschossen. Ich sage es mal so: Wer Angst hat, macht Kompromisse. Angst ist keine gute Stimmung, um kreativ arbeiten zu können.
Wie sieht es mit der Zensur aus, fühlen Sie sich durch die existierenden Regeln eingeengt?
Na ja, im populären Kino sind Küsse auf den Mund tatsächlich immer noch sehr selten, und wenn, dann sind auch nur sehr flüchtig. Stattdessen sieht man, wie sich zwei Blumen auf der Leinwand küssen! In Indien ist Kino eine Familienangelegenheit, die meisten Leute gehen vorzugsweise mit Kindern, Großeltern und Tanten ins Kino. In solcher Umgebung ist es einfach sehr unangenehm und peinlich, auf der Leinwand Dinge zu sehen, die man ja gar nicht unbedingt direkt zeigen muss. In meinem Film gibt es zum Beispiel eine Szene, in der die Armreifen der Hauptfigur zerbrechen und ihr Geliebter den Blutstropfen küsst, dann ihre Hand mit den Lippen berührt – das ist doch viel lyrischer als ein Kuss auf den Mund, und niemand in der Zensurbehörde redet mir rein. Hätte aber die Heldin am Ende ihren Ehemann verlassen, dann hätte dies unser Publikum mit Sicherheit als Blasphemie wahrgenommen, und der Film wäre über Nacht aus den Kinos verbannt worden.
Würde es Sie reizen, als Regisseur mal in Europa oder den USA zu arbeiten?
Irgendwann einmal, vielleicht in fünf, sechs Jahren. Aber man müsste mich mit meinem besonderen Stil akzeptieren. Ich bin ein sehr indischer Mensch mit einer indischen Gefühlswelt. Und auch wenn ich hier viel Kritisches über unsere Industrie gesagt habe: Mir ist egal, wenn sich die Menschen im Westen über unsere Filme lustig machen, wir werden niemals damit aufhören. Nirgendwo auf der Welt schafft es das Kino, am laufenden Band solche Massenhysterie zu produzieren. Das ist wirklich magisch, und wir sind sehr stolz darauf. Gewiss muss sich vieles weiterentwickeln, insbesondere, was die Technik, die Ästhetik und die Anzahl der Stoffe betrifft. Aber all das sollte sich innerhalb der Grenzen unserer Kinotradition abspielen. Für mich ist es eine wunderbare Herausforderung, hier in Bollywood für mein Publikum genau die Filme machen zu können, von denen ich schon als Kind geträumt habe.
Interview: DOROTHEE WENNER
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