: Subversion is over
Goldene Zeiten für Literatur (XI): Warum es notwendig ist, die Oberfläche unserer Gegenwart mit kaltem Blick zu erkunden
■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur?Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnellweggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten,Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen
von GEORG M. OSWALD
Die Marktgesellschaft stiftet Sinn. Seit dem Untergang des Kommunismus hat der westliche Kapitalismus die Kritik an sich selbst – früher „Systemkritik“ genannt – in den Warenkreislauf integriert und ins Positive gewendet. Nicht länger wird von uns erwartet, dass wir schnöde unsere Arbeitskraft gegen Geld verkaufen, nach Feierabend aber nicht wissen, was wir mit uns anfangen sollen. Die früher so gefürchtete Entfremdung hat ein Ende, seitdem Eingegliedertsein in den Produktionsprozess und Selbstverwirklichung keine Gegensätze mehr darstellen. Als Leitbild für den Mann dient heute der waschbrettbäuchige Angestellte, der im Büro „creativ“ ist, einen Geländewagen durch die Stadt lenkt, Aktien des Unternehmens hält, in dem er arbeitet, und durch all diese Umstände sowie durch bewusstes Konsumverhalten in der Lage ist, auch existenzielle Krisen (Krankheiten, Trennungen) zu meistern. Für Frauen gilt nichts anderes, nur dass an Stelle des Waschbrettbauchs die Straffung der bekannten Problemzonen anzustreben ist.
Das Leben jedes Einzelnen gleicht einem Trainingscircuit, unterteilt in etliche Stationen, die es mit möglichst hoher Punktzahl zu absolvieren gilt. Der Erfolg des legendär gewordenen Werbespots „Mein Haus, mein Auto, meine Yacht usw.“ beruht auf dieser Tatsache. Die Koordinaten, an denen sich ein geglücktes individuelles Leben zu orientieren hat, sind so klar und eindeutig bestimmt wie lange nicht mehr. Demgegenüber wirkt die Suche nach „alternativen Lebensentwürfen“, die in den Achtzigerjahren eine Art Ausweis kritischen Bewusstseins zu sein glaubte, von heute aus betrachtet schlichtweg zurückgeblieben, denn wer seinen gesamten – so nennen wir das heute – „Input“ nicht auf das Erreichen von anerkannten Zielen in der Gesellschaft richtet, bringt damit lediglich zum Ausdruck, dass er sich aufgegeben hat. Und wer will das schon, zumal die Gelegenheiten, das Glück zu machen, so günstig sind wie nie zuvor.
Die Metapher schlechthin für Glück ist das Geld. Das ist so, seit es Geld gibt. „Da dem Geld nicht anzusehen ist, was in es verwandelt wird, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Alles wird verkäuflich oder verkaufbar“, stellte Karl Marx im ersten Band des „Kapital“ fest, und wir können dieser Feststellung heute lustvoll zustimmen, ohne gleichzeitig beteuern zu müssen, dass dies in irgendeiner Weise „schlimm“ sei. An den größten Handelsplätzen der Welt, den Börsen, wird tagtäglich das einstige Versprechen des Sozialismus eingelöst, denn jedermann darf heute dort via Internet versuchen, sein Glück zu machen, und nicht wenigen gelingt es. Noch viel mehr verlieren natürlich alles, was sie haben, aber das zählt nicht – sie hatten die gleiche Chance wie alle anderen zu gewinnen.
Wir befinden uns mithin in einem Zustand bedenkenloser Affirmation. Es gibt so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen wie nie zuvor, und wir sind uns alle einig, wofür wir es auszugeben haben – wir kennen die Waren, die Marken, die Preise und sind bereit zu bezahlen. Mehr als man vielleicht glauben will, findet dies Niederschlag in der aktuellen Literaturproduktion. Der Gestus der Affirmation hat auf breiter Ebene Einzug gehalten.
Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Joachim Bessing gehen in ihren Büchern akribisch den Fragen nach, die von dem oben beschriebenen Plateau des aktuellen gesellschaftlichen Bewusstseins aus betrachtet die entscheidenden sind: Was ziehe ich an? Welche Musik höre ich heute? Wofür gebe ich mein Geld aus? Die Frage „Wie soll mein Leben aussehen?“ stellen sie im buchstäblichen Sinn, die Gestalt der Oberfläche ist es, die sie interessiert. Wer etwa Joachim Bessing reden hört, wird feststellen, dass der Begriff des Angenehmen in seinem Denken eine wichtige Rolle spielt. Er begründet bemerkenswert viele seiner Urteile damit, dass ihm etwas angenehm oder unangenehm sei. Der Begriff beinhaltet natürlich weit mehr als die physische Reaktion auf bestimmte Phänomene, vielmehr repräsentiert er die letzte ästhetische Kategorie dieses Autors. Im Kern geht es darum, durch die Wahl der richtigen Accessoires das Leben zu perfektionieren, eben alles Unangenehme zu eliminieren. Die Literatur kann bei derartigen Überlegungen, wenn überhaupt, nur noch durch ihr ansprechendes Äußeres überzeugen. So ist es auch absolut folgerichtig, wenn Christian Kracht in einem Radiointerview nicht über den Inhalt seines neuen Buches spricht, dafür aber ausführlich die Gestaltung des Umschlags erläutert.
In seinem Buch „Generation Golf“ preist Florian Illies Stuckrad-Barre und Kracht weniger für ihre Bücher denn für das öffentliche Bekenntnis, eine Putzfrau zu beschäftigen, das offenbar wie ein Befreiungsschlag betrachtet werden soll. Diese Einschätzung lässt etwas von dem kleingeistigen Muff erahnen, in dem diese Generation herangewachsen ist. Voll versteckten Hasses blickt sie zurück auf eine Zeit, die von einer merkwürdigen Melange aus altsozialdemokratischer Biederkeit und Kohl’schem Spießertum geprägt war und erst heute überwunden werden kann, da ein beherztes Ja zum freien Markt wieder möglich ist. Was derzeit als Popliteratur firmiert, atmet den Geist dieses großen, alles Alte über den Haufen rempelnden Ja.
Die Umpolung des literarischen Gestus hin zum Affirmativen versetzte den Kulturbetrieb in den vergangenen Monaten in hellen Aufruhr, da plötzlich der bis dato identitätsstiftende Brummton der Bedenklichkeit gefährdet war. Es setzte geifernde Verrisse für die Apologeten des Pop, und es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die „älteren Jungen“ unter den Autoren den Kontrapunkt setzten, den es nun zu verhandeln gilt.
Zur „Schlappschwanzliteratur“ erklärte Maxim Biller das, was die so genannten Popschriftsteller von sich geben. Was ihrer Literatur zwangsläufig fehle, sei jene grundlegende sittliche Anstrengung, die notwendig sei, um „gute Kunst“ zu erschaffen. Biller selbst freilich hat vergessen, was er in den Achtzigern schon einmal wusste, dass die ironiegetränkte Affirmation des „Systems“ einmal als letzte Form der Subversion galt – nur dass die „Generation Golf“ über die Affirmation die Ironie verabschiedet hat und dies mit der Songzeile „Irony is over“ von Jarvis Cocker auch proklamiert. Sich den Schriftsteller als unbestechliche moralische Instanz denken zu wollen, der den gemauschelten gesellschaftlichen Konsens mit Werken von blendender Strahlkraft angreift, ist zwar hübsch, aber ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit.
Ist der Wunsch, grundsätzliche Kritik am Zustand unserer Kultur zu treiben, auch noch so berechtigt, so darf er dennoch nicht dazu verführen, hinter Erkenntnisse zurückzufallen, die nicht zu leugnen sind. Fundamentale Kritik ist längst Bestandteil jenes hoch differenzierten Apparates geworden, der gerne mit dem Schlagwort Neoliberalismus bezeichnet wird. Der Vorstandsvorsitzende, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit Adorno zitiert, ist heute keine Seltenheit mehr. Die Besonderheit liegt aber nun darin, dass dies für ihn nicht Bestandteil einer infamen Strategie der Irreführung ist, sondern er wirklich glaubt, was er sagt. Um es schlagwortartig zu fassen: Die Neoliberalen beanspruchen für sich, das Glücksversprechen, dessen negative Seite jeder „Systemkritiker“ in früheren Zeiten im Sinne eines stets mitgedachten, utopischen Besseren formulierte, nach ihren Maßstäben erfüllen zu können. Sie haben die Kritik als einen weiteren produktiven und identitätsstiftenden Faktor in ihren Apparat integriert, weil sie diese Kritik – abgesehen von ihren Schlussfolgerungen – als zutreffend betrachten. Den Begriff der Subversion wieder zu beleben ist deshalb ein aussichtsloses Unterfangen.
Um ein Beispiel zu geben: Ein Autor beschreibt in seinen Büchern wie keiner vor ihm, welches Unglück unsere Kultur dem Einzelnen dadurch beschert, dass sie ihn auf unerträgliche Weise mit seinen uneinlösbaren Glücksvorstellungen malträtiert. Die Bücher werden Bestseller und, verstärkt durch die kontroverse, aber ausführliche Rezeption, prominente Wahrzeichen dessen, was sie beschreiben. Die Gesellschaft bestimmt den Autor, der sie am gründlichsten verachtet, zu ihrem Protagonisten und macht ihn zum Glücklichsten, der man nach ihren Vorstellungen sein kann – zum Millionär. Das heißt: Wer sich und seine Texte öffentlich macht, ist so subversiv wie die HypoVereinsbank, die mit hippen Jugendlichen wirbt, welche mit Geld nichts zu tun haben wollen. „Leben Sie – wir kümmern uns um die Details“, lautet der Slogan. Wer, wie Maxim Biller, in diesem Spiel eine Moral bemüht, die fein säuberlich nach „gut“ und „böse“ unterscheidet, ist ohne Chance.
Die Illusion, ein Schriftsteller könne heute aus der Position des Wissenden schreiben, scheint unter den gegebenen Verhältnissen absurd. Möglich und notwendig ist es jedoch, die Oberfläche unserer Gegenwart mit kaltem, kritischem Blick zu erkunden. Wir sind gewohnt, ihr keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, weil wir sie für selbstverständlich halten. Doch das ist natürlich falsch, wie jeder leicht nachprüfen kann, der das Leben, das er vor zehn Jahren geführt hat, mit seinem heutigen vergleicht. Er wird feststellen, dass buchstäblich nichts beim Alten geblieben ist und er deshalb sein Weltbild komplett revidieren muss, soll es etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, die er vorfindet, wenn er vor die Wohnungstür tritt.
Für den Schriftsteller gilt es zunächst, Worte für das zu finden, was ihm dort begegnet. Das klingt schlicht, ist aber schwierig, denn er kann auf Altbekanntes kaum zurückgreifen. Ist sein Blick offen, so ist der Erkenntnisgewinn groß. Die Bücher von Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq etwa lassen uns mehr über unsere Welt erfahren als die schönste Illustration einer persönlichen und deshalb ja doch immer nur beliebigen Moral. Das liegt daran, dass sie das Ergebnis genauer Beobachtung dessen sind, was jetzt ist. Unsere Literatur hat die Aufgabe, den Menschentypus zu beschreiben, den unsere neue Gesellschaft hervorgebracht hat. Und je schonungsloser der Blick, desto besser. Leistet die Literatur das nicht und verharrt stattdessen in ihrem vorbehaltslosen Ja, besteht die Gefahr, dass wir in unserem überbordenden Wohlstand vor uns hinvegetieren in einer Gesellschaft von „jungen Arschlöchern voller Zaster, deren intellektuelles und moralisches Niveau erschreckend niedrig ist“ (Houellebecq) – und das wollen wir doch nicht, oder?
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