MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING: Wie ein Sammler
Jen Banbury: „Von einer, die auszog“. Aus dem Amerikanischen von Kim Schwaner. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000, 320 Seiten, 24 DM
Auf der Rückseite von Büchern werden gerne so genannte „Pressestimmen“ zitiert. Die Literaturkritik in Amerika und England spielt das Spiel mit und bemüht sich um originelle und knappe Formulierungen, die sich dann auf den Buchrücken wieder finden. Besonders begehrt sind Sätze von Prominenten, und auf Jen Banburys Debüt „Von einer, die auszog“ findet sich ein Satz von Nick Hornby:
„Cool, hart und komisch. Klau das Buch nicht, kauf es!“
Das ist der Wunsch nach ein bisschen Anarchie in einer so geregelten Welt wie dem Literaturbetrieb: Eigentlich klaut man natürlich Bücher, erklärt Nick Hornby einem hier, nur in diesem Fall möge man doch bitte eine Ausnahme machen!
Darunter liegt die feine Ironie und Melancholie, die wenig mit dem Verkaufen von Büchern zu tun hat, aber viel mit den Romanen von Nick Hornby, in denen es um die Angst der Thirtysomethings vor dem endgültigen Erwachsenenleben geht. Seine Figuren bekämpfen diese Angst, indem sie Fußballergebnisse oder Schallplatten sammeln.
Auch davor kann man Angst haben: „Ich fing an wie ein Sammler zu denken“, stellt Jill an einer Stelle in „Von einer, die auszog“ fest, „und das war gar nicht gut.“ Jill ist Mitte zwanzig, lebt in L. A. und führt ein bewusst leeres Leben. Sie jobbt in einem Antiquariat, sonst tut sie eigentlich nichts, ab und zu liest sie mal ein schlechtes Buch: „Ich lass mich eben gern einlullen. Bin wirklich gut darin.“
Jill wird eine Erstausgabe von Jack Londons „The Cruise of the Snark“ angeboten. Sie kauft es für 20 Dollar und verkauft es für 200 Dollar weiter. Und dann gibt es Ärger. Das Buch birgt ist nämlich einiges mehr wert als 200 Dollar. Durchgeknallte Kriminelle und ein neurotischer Regisseur fangen einen Kleinkrieg an, Jill als einsame Ermittlerin mittendrin, auf Buchmessen und Filmsets, und zuletzt in einer Folterszene mit netter Musikuntermalung in „Reservoir Dogs“:
Fräulein Smilla meets Quentin Tarantino!
So viel Aufregung um ein Buch. Aber das ist Amerika.
Schläge ins Gesicht
Alissa Walser: „Die kleinere Hälfte der Welt“. Erzählungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2000, 112 Seiten, 26 DM
In Deutschland findet man Schriftsteller viel aufregender als Bücher. Martin Walser zum Beispiel. Oder Alissa Walser, die Tochter von Martin Walser. 1992 las sie in Klagenfurt eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Geschenkt“ vor, und – aufregend! – gleich das fünfte Wort war „Vater“. Man fand allerhand in der Geschichte, bis hin zum Inzest, und freute sich, als zwei Jahre später Alissa Walsers erster Erzählband erschien: „Dies ist nicht meine ganze Geschichte“.
Jetzt gibt es einen zweiten Band, „Die kleinere Hälfte der Welt“, und gleich das zweite Wort der ersten Geschichte ist „Mutter“. Das wäre eigentlich lustig. Aber Alissa Walser schreibt keine lustigen Geschichten. „Also, Mutter, oder wie soll ich sagen, Heike, Mutti oder Erzeugerin“, beginnt die Titelgeschichte. Während sich eine junge Frau daran erinnert, wie sie als Teenager mit dem Liebhaber ihrer Mutter geschlafen hat, wird hier von der Unfähigkeit erzählt, für das, was man einmal erlebt hat, eine Ansprache zu finden: Also, ich, oder wie soll man sagen, Leben, Tragödie oder Biografie? – Darum geht es in den sieben Erzählungen. Um die Wunden. Den schnellen Sex, Eifersucht und Gewalt, um Einsamkeit und Kälte und um die Gespräche, die man mit dem Liebhaber oder mit der Frau des Liebhabers am Telefon führt.
Alissa Walser schreibt über das ganz normale, traurige Leben . . .
. . . das seine Spuren in den Gesichtern der Menschen hinterlässt: „Wenn Sie mich anschauen, wissen Sie es“ heißt eine der Geschichten in dem Band.
Alissa Walser hat eine Sprache gefunden, um diese Spuren in den Gesichtern zu beschreiben. Die Sprache ist präzise und kalt, man liest sie im Grunde genommen nicht gern. Sie tut weh. Alissa Walser weiß das wahrscheinlich auch. Eine ihrer Erzählerinnen nimmt sich vor, die Geschichte von sich und ihrem Vater „schnell und sehr leise“ zu erzählen, „damit sie nicht wirkte wie ununterbrochene Schläge“. – Bei Alissa Walser funktioniert das nicht.
Wohlfühlpullover
Markus Seidel: „Freischwimmer“, Knaur, München 2000, 231 Seiten, 14 DM
Markus Seidel ist das Gegenteil von Alissa Walser. Markus Seidel tut nicht weh. Markus Seidel schreibt Geschichten, die warm und weich und kuschelig sind. Seine Romane nimmt man zur Hand, wenn es einem nicht gut geht, so wie man nach einem langen und harten Arbeitstag den Büropullunder ablegt und stattdessen den etwas zu weiten und vielleicht auch schon ein bisschen verwaschenen Wohlfühlpullover anzieht. Die Menschen bei Markus Seidel haben natürlich auch Probleme, die Jungs zum Beispiel können sich nie so richtig entscheiden, welche Mädchen sie gerade gut finden. Aber das sind Probleme, für die man sie natürlich am liebsten umarmen möchte.
Markus Seidels erster Roman hieß „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“, sein neuer Roman trägt den Titel „Freischwimmer“. Er beweist endgültig:
Markus Seidel ist der Konsalik der späten 90er-Jahre!
Denn Markus Seidel weiß, wovon die Generation träumt, für die „Stalingrad“ nur noch ein Filmtitel ist. Die Frauen in seinen Romanen sind zum Beispiel alle total selbstbewusst, und die Männer müssen keine Superhelden oder Machos mehr sein. Als Hannes, der wirklich so heißt, Buchhändler ist und Berlin wohnt, gerade mal wieder von einer Frau zum Kuscheln gedrängt wird, die dann auch noch ihre Freundin mit ins Zimmer holt, wird es ihm zum Beispiel zu viel: „Das ist es nicht, was ich will!“ Hannes kennt Gott sei Dank auch Frauen, mit denen es nicht so schwierig ist, zum Beispiel Isolde, mit der er auch mal nur „Arm in Arm nebeneinander“ im Bett liegen kann: „Wir geben uns noch einen Kuss, einen ganz harmlosen nur.“ Besser als Fernsehen.
Man muss „Freischwimmer“ also unbedingt lesen. Nicht nur weil jeder, der schon mal in Berlin war, darin den Alexanderplatz, das Tacheles und die Bergmannstraße wieder finden wird, die Hannes auf einer kleinen Reise durch seine Stadt passiert, sondern weil Hannes zum Schluss erkennt, dass ein paar Menschen ihn ganz schön gern haben. Und es auch noch eine Frau gibt, die auf ihn wartet! Es tut halt gut, nach Hause zu kommen. Auch wenn hinter einem nicht Stalingrad liegt, sondern nur eine Woche Berlin.
Lesenswert
Und hier die Top Five der Pressestimmen auf Buchumschlägen:
1. „Sehr lesenswert“Die Woche – Alissa Walser: „Dies ist nicht meine ganze Geschichte“
2. „Georg Klein schreibt nicht nur wie ein Meister, er ist einer.“ Die Welt – Georg Klein: „Anrufung des blinden Fisches“
3. „Viele seiner Sätze sind literarische Volltreffer, wahre Blitzlichter voller Esprit und Witz.“ Radio Bremen – Philippe Djian: „Rückgrat“
4. „Hier zeigt sich ein Talent, das zum Schreiben geboren ist.“Süddeutsche Zeitung – Zoe Jenny: „Das Blütenstaubzimmer“
5. „Die neue Antwort auf Thriller-Fragen heißt Baldacci.“ Frankfurter Rundschau – David Baldacci: „Die Versuchung“
Different Class
Patrick Redmond: „Das Wunschspiel“. Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller. C. Bertelsmann, München 2000, 413 Seiten, 39,90 DM
Der einfühlsame Markus Seidel wäre eigentlich der Richtige, um das Genre des Internatsromans für Deutschland neu zu beleben. Benjamin Lebert hatte sich mit „Crazy“ ja alle Mühe gegeben, wirkliche Nachahmer hat er allerdings nicht gefunden, er steht weiterhin allein auf den Schultern der Giganten Hermann Hesse und Robert Musil.
In England wird das Genre dagegen liebevoll gepflegt, was nicht zuletzt an der immer noch großen Zahl von Privatschulen und Internaten liegt. Das System ist stabil: Gerade erst hat es mal wieder einen kleinen und folgenlosen Skandal gegeben. Das Magdalen College in Oxford hat eine Schülerin offenbar nur deshalb abgelehnt, weil sie eine staatliche Schule besucht hat. Patrick Redmonds Thriller „Das Wunschspiel“ ist so gesehen also . . .
. . . ein äußerst gegenwärtiger Roman . . .
. . . auch wenn er im Jahr 1954 spielt. Jonathan ist Schüler des Internats Kirkston Abbey, besucht also die richtige Schule, gehört nur leider der falschen Gesellschaftsschicht an – sein Vater ist weder besonders reich, noch gehört er auch nur zum einfachsten Landadel. „Du bist dumm, und du gehörst nicht hierher“, erklären ihm seine Mitschüler, bevor sie ihn nachts im Waschraum ordentlich zusammenschlagen. Bis Jonathan dann Richard kennen lernt, auch ein Einzelgänger, nur – it’s a different class – mit einem gesünderen Gespür für Überlegenheit und Arroganz. Die beiden werden Freunde und dann noch mehr als Freunde, das gehört zum Internatsroman dazu.
Gemeinsam sie starten sie ein kleines psychologisches Experiment: Sie suchen nach wunden Punkte bei Lehrern und Mitschülern, verschicken ein paar anonyme Briefe und warten ab. Das Warten dauert lange: „Das Wunschspiel“ ist ein echter Psychothriller, der über weite Strecken einfach nur eine düstere und beklemmende Atmosphäre aufbaut und dann zuletzt auf wenigen Seiten die Handlung explodieren lässt: Das Experiment von Jonathan und Richard geht auf. Es gibt Tote, viele Tote.
Tony Blair hatte übrigens bei seinem Regierungsantritt angekündigt, die „Apartheid, die durch die Trennung in öffentliche und private Schulen geschaffen wurde“, abzuschaffen. Seine eigenen Kinder hat der Premierminister allerdings auch lieber auf ein teures Internat geschickt. Vielleicht sollte er sie mal wieder anrufen und fragen, was sie gerade so machen . . .
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