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Überwachen und Strafen

Erst seit Mitte der 80er-Jahre spielt das Thema Zwangsarbeiter wissenschaftlich eine Rolle. In diesem Jahr sind einige bemerkenswerte Arbeiten erschienen, allen voran die Studie von Valentina Stefanski

von CHRISTIAN SEMLER

Bis Mitte der 80er-Jahre herrschten Gereiztheit, Ablehnung und Schweigen, wenn in Deutschland die Rede auf die Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs kam. Entschädigungsforderungen stießen auf eine eisige Verweigerungsfront bei Unternehmen, Justiz und Politik, und es gab kaum historische Untersuchungen. Das änderte sich in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre: Ausdruck dieses Klimawechsels war auf der politischen Ebene der Vorstoß der Bündnisgrünen zu einer Bundesstiftung – und im Bereich der Wissenschaft die Arbeit Ulrich Herberts über den „Ausländereinsatz“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches.

Die Gründe? Mit der Krise und dem schließlichen Untergang der realsozialistischen Regime konnten die Opfer der Zwangsarbeit in Osteuropa erstmals ihre Stimme erheben. Eine Reihe von deutschen Großunternehmen beauftragte – nicht ganz freiwillig – unabhängige Historiker mit der Untersuchung der Firmengeschichte während des Zweiten Weltkriegs. Vor allem aber fand der späte Ruf nach Gerechtigkeit ein Echo bei lokalen Initiativen und Geschichtswerkstätten. Heute hat die Zahl der Veröffentlichungen, von gewichtigen Wälzern über die Zwangsarbeit bei Daimler oder VW bis zu lokalgeschichtlichen Broschüren, die Marke hundert überschritten.

Unter den Neuerscheinungen des Jahres 2000 verdient die Arbeit von Valentina Maria Stefanski, „Zwangsarbeit in Leverkusen“, besondere Aufmerksamkeit. Der Autorin ist es gelungen, den „Blick von oben“, also die Welt der Akten und der Erlasse, eindrucksoll mit dem „Blick von unten“, also den Berichten der überlebenden Zeitzeugen, zu verbinden. Stefanski, eine gebürtige Polin, führte mit rund 50 der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen aus dem I.G. Farbenwerk Leverkusen ausführliche Interviews. Die Interviewten, hauptsächlich Frauen, waren fast durchwegs bis zum Kriegsende, also rund vier Jahre, zwangsverpflichtet.

Fragmentierte Erfahrung

Die Erinnerung an den Aufenthalt in Deutschland blieb intensiv, freilich divergieren ihre Berichte und ihre Einschätzungen außerordentlich. Das hängt mit der starken Fragmentierung ihrer Erfahrungen zusammen, mit der Tatsache, dass es im Werk trotz der hohen Zahl polnischer Beschäftigter eigentlich keinen Zusammenhalt einer „polnischen Gruppe“ gab.

Im I.G. Farbenwerk Leverkusen herrschte gegenüber den Zwangsarbeitern keine exzessive Brutalität, ein durchschnittliches, daher besonders signifikantes Beispiel der Ausbeutung. Allerdings geht aus den Berichten der „Betroffenen“ das Ausmaß der Erniedrigung, der elenden Ernährungs-, Wohn- und hygienischen Verhältnisse ebenso grell hervor wie das dichtmaschige Netz der Verbote und der Strafen. Nach den sowjetischen „Ost-Arbeitern“ standen die polnischen Zwangsarbeiter auf der zweitniedrigsten Stufe der Hierarchie. Hauptsächlich galt die Sorge dem schieren Überleben. Stefanski schildert, wie unterschiedlich sich die ZwangsarbeiterInnnen gegenüber Überwachung und Strafen verhielten, wie die Mutigeren in den Schwarzhandel einstiegen, wie auch die Ängstlichen wenigstens einmal sich illegal nach Köln aufmachten, um den Kölner Dom zu sehen – und sich vor ihm fotografieren zu lassen. Denn den Eltern und Verwandten zu Hause sollte nicht der trostlose Alltag, sondern eine schönere Scheinwelt übermittelt werden

Wie verhielten sich die Deutschen gegenüber ihren unfreiwilligen Gästen? Aus den Berichten der Interviewten entsteht ein differenziertes Bild: Die Bösartigkeiten von Aufsichtspersonal und Ärzten haben sich ebenso ins Gedächtnis eingegraben wie manche verstohlene Hilfe seitens der Kollegen oder aus der Bevölkerung. Allerdings stehen den polnischen „RespondentInnen“ keine befragten Deutschen gegenüber. Zu deren Haltungen geben andere Untersuchungen wie Leonore Schultze-Irrlitz Band „Arbeit für den Feind, Zwangsarbeiter-Alltag in Berlin und Brandenburg 1939–45“ einige Einblicke. Aus Dokumenten „von oben“, beispielsweise Gerichtsurteilen, scheint hervorzugehen, dass die Richter im Zweifel lieber den milderen Tatbestand anwandten, etwa Diebstahl statt Sabotage. Die Geldstrafen waren allerdings, gemessen an den Löhnen, außerordentlich hoch.

Stefanski erhielt zwar Einsicht ins Bayer-Archiv, nicht aber in die Akten der Betriebskrankenkasse. Sie konnte über die Löhne keine allgemeinen Aussagen machen, ein Manko, das sie selbst beklagt. Aber diese und einige andere Auslassungen schmälern nicht im Geringsten die Bedeutung der Arbeit. Stefanski hat – eine Seltenheit bei dem Thema – auch die Zeit nach Kriegsende darzustellen versucht. Eindrucksvoll (und deprimierend) das Resümee, das viele der Befragten zu ihrem weiteren Lebensschicksal zogen: Sie bedauerten, trotz des erlittenen Unrechts nach 1945 nicht in Deutschland geblieben zu sein.

Ein besonders sinistres Kapitel in der Geschichte der Zwangsarbeiter-Ausbeutung bilden die amerikanischen Autokonzerne Ford und General Motors. Beide Unternehmen haben nach dem Zweiten Weltkrieg argumentiert, sie hätten seit Beginn des Zweiten Weltkriegs jede Kontrolle über ihre deutschen Filialen verloren, seien also weder verantwortlich für die Einbeziehung von Ford und Opel in die Kriegswirtschaft noch für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern. General Motors (GM) setzte sich mit dieser Version in den USA gegenüber kritischen Historikern auch gerichtlich durch. Schon in den 80er-Jahren hat die taz-Redakteurin Anita Kugler in zwei Aufsätzen, die jetzt in den USA überarbeitet in Buchform erscheinen, dieser beschönigenden Sicht widersprochen.

Ford bewunderte Hitler

Kugler führte den Nachweis, dass General Motors nicht nur an der Umstellung von Opel auf die Kriegsproduktion beteiligt war und an ihr verdiente, nicht nur vom Einsatz von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern im Jahr 1940 Kenntnis hatte, sondern auch nach Beginn des Krieges mit den USA Ende 1941 und der Zwangsverwaltung fast ein Jahr später über den von ihr bevollmächtigten Anwalt Richter noch (indirekten) Einfluss auf die Firmenpolitik nehmen konnte. Die Arbeit Günther Nelibas zur Kriegsproduktion von Opel behandelt die Zwangsarbeiter-Frage nur am Rande, liefert aber weiteres Material über die vorsichtige Taktik der Nazis gegenüber den Autobossen aus Übersee und der pfleglichen Behandlung des „Feindvermögens“

Nicht nur die Chefs von GM , auch die Ford-Family gehörte zu den Bewunderern Adolf Hitlers. Wie aus in den USA neu veröffentlichten, von Ken Silverstein in der Zeitschrift The Nation vorgestellten Dokumenten hervorgeht, unterstrich Ford noch kurz vor dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour gegenüber der deutschen Seite den Beitrag Fords zur Kriegsführung der Nazis. Ford-Köln wurde wie Opel später zwar unter Zwangsverwaltung gestellt, aber nie enteignet: Die Dividende des Mehrheitseigners Ford wurde nach dem Krieg ausgezahlt. Schon vor der Zwangsverwaltung sind bei Ford „Zivilarbeiter“ und Kriegsgefangene eingesetzt worden, dies mit Billigung der Ford-Family. Nach der Zwangsverwaltung setzte Ford über sein Werk im besetzten Frankreich die Zusammenarbeit mit Ford-Köln und den deutschen Behörden fort.

Nachtrag: Nach dem Krieg wurde das deutsche Management der Kriegsjahre sukzessive wieder eingestellt.

Valentina Maria Stefanski: „Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche im I.G. Farbenwerk“. Fibre Verlag, 2000, 588 Seiten, 48 MarkGünter Neliba: „Die Opel-Werke im Konzern von General Motors (1929–1948) in Rüsselsheim und Brandenburg“. Brandes & Apsel, 2000, 176 Seiten, 29,80 MarkDie Aufsätze von Anita Kugler sind auf Deutsch erschienen in: Bernd Heyl/Andrea Neugebauer (Hg.): „... ohne Rücksicht auf die Verhältnisse“. Brandes & Apsel, 1997, 36 MarkKen Silverstein: „Ford and the Führer“. in: „The Nation“, 24. 1. 2000; im Internet unter: www.thenation.com

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