berliner ökonomie: Postnatale Euphorie in der Hauptstadt der Produkte
Bienenwachs und Walkwolle
Das Schöne am Elternwerden ist auch, dass es plötzlich so viele neue Produkte gibt. Womit gar nicht das Bettchen, der Kinderwagen und der Hochstuhl gemeint sind, die gekauft werden müssen, sondern andere, raffinierte Artikel, an deren Erwerb sich sowohl elterliche Sorgfalt als auch Qualitätsbewusstsein und Liebe zur Natur erweisen können. Es fängt schon bei der Geburtsvorbereitung, ach was: beim Schwangerenturnen an. In Berlin turnt man gewöhnlich in der nächstgelegenen Hebammenpraxis. Und bei über 400 freiberuflichen Hebammen gibt es tatsächlich in fast jeder Nähe eine Praxis. Dort freut man sich dann zum ersten Mal an den praktischen Dinkelspelzkissen, die, in optimistisch gefärbte Leinenhüllen eingenäht, knisternd den Rücken stützen. Beim nächsten Marktbesuch fällt der Tisch mit den Dinkelspelzprodukten („nach Hildegard von Bingen“) dann gleich ins Auge. Der Mann mit Nickelbrille berät einen gern.
Die meisten der Turnenden treffen sich zum Säuglingskurs wieder. Da geht es, wie in aufgeklärten Kreisen nicht anders zu erwarten, vor allem darum, was man alles nicht braucht in der Babypflege. Erdölgestützte Produkte, Puder und in Billiglohnländern gefärbte Strampler sind tabu, Wolle-/Seidenhemdchen, Lammfelle und Schurwollhöschen indessen machen lange Freude und können noch an Generationen von Babys weitergegeben werden. Es sind Studentinnen und Journalistinnen, Schauspielerinnen oder Medizinerinnen im praktischen Jahr. Die meisten sind nicht verheiratet und haben die geplante Weltreise noch vor sich, bewohnen mit den Vätern der Kinder mittelgroße Altbauwohnungen ohne Vorhänge und Tiefkühltruhe, und der Wickeltisch findet fürs Erste im Arbeitszimmer Platz. Manche bräuchten Küchenstühle, andere eine neue Matratze und Winterreifen. Gleichwohl kaufen alle Babyprodukte.
Es gibt ja so vieles, was ungebleicht, robust und zu fairen Preisen ökologisch verträglich gefertigt wird. Moltontücher, Stilleinlagen, Seidenhemdchen, -mützchen, -höschen, Holzrasseln, Öle, Tees und Kräuter für und gegen alles. Matrimo in der Hagelberger Straße ist in Berlin die erste Adresse für Baby-Naturwaren und hat natürlich seine Preise. Auch Chiquitin in der Eisenacher oder Vivaverde in der Motzstraße sind beliebte Ausflugsziele. Die Lavera- und Weleda-Pflegeprodukte führen glücklicherweise die meisten der über 80 Bioläden in Berlin, die dann auch – für später! – entweder Holle- oder Bioland-Babynahrung im Angebot haben, in Ausnahmen sogar beides.
Die Welt sieht plötzlich anders aus: so viel reicher, bunter und tiefer. Und trotzdem noch erschwinglich, irgendwie. Man geht ja allmählich nicht mehr aus, beim Primel- oder Avalonversand gibt es viele Produkte auch günstiger und, mein Gott!, es ist das erste Kind. Baumwollplüschschlafsäcke, Teufelsmützchen, Schlafanzüge aus kontrolliert biologischer Baumwolle („kbA“, wie wir Fachfrauen sagen) mit Kratzschutz, dazu die Schurwoll-Ente Quaxi , den Eisbär mit Kirschkernsäckchen für den Bauch und natürlich das Engelsmobile aus pflanzengefärbter Wollwatte.
Ist das Kind dann da, erweist sich solide Vorarbeit als wichtig, ist aber nur der Tropfen auf den heißen Stein. Kautschukschnuller, Brustpumpe, Vaporisator (für die Mikrowelle oder besser nicht?), Tragetuch oder Baby-Björn, nein halt, der Glückskäfertragesack schloss in Öko Test doch eigentlich am besten ab, Autositzschalen bis neun oder dreizehn Kilo, und schon ist Winter, und das Kind braucht einen Schneeanzug, natürlich aus Walkwolle, schon für hundertneunundsechzig Mark.
Gemeinsam mit den neuen Produkten findet man bald neue Freunde, mit denen man sich über die Produkte unterhält, während die Kinder nebeneinander liegen. An den bienenwachsgefärbten Spielzeugketten erkennt man Gleichgesinnte auch spontan auf der Straße und nickt sich freundlich zu, der geübte Blick registriert einen Teutonia mit Langhaarlammfell darin, das Kind in lana basic, rot-weiß, wie hübsch – doch die zum Anzug passende Mütze bringt die Sache zum Kippen. Gezielter Schick ist albern und Geldverschwendung. Wir aufgeklärten Mütter der alten Mitte kaufen aus Gründen der Qualität. Es muss selbstverständlich wirken; so, als sei zu Hause sowieso alles aus Holz geschnitzt. Eine einfarbige Wollmütze hätte es auch getan.
Es ist dieses wohlige Gefühl, das RICHTIGE zu kaufen, das RICHTIGE zu tun!, das dann auch das eigene Aussehen vergessen lässt – die Tatsache, dass man selbst fast ein Jahr nach der Geburt noch immer in den Schwangerschaftssachen herumrennt. Mit Dr.-Hauschka-Produkten gecremt und ayurvedischen Tees gestärkt, hat man das bisschen Eitelkeit allemal im Griff, und wenn die Bekannten aus Köln oder Pinneberg mit ihren Eigenheimraten nur den Kopf schütteln und meinen, Plastikspielzeug täte es doch auch, dann ahnt man endlich, was das ist: ein hauptstädtisches Gefühl. PETRA KOHSE
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