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Hysterie der Affirmation

DAS SCHLAGLOCHvon KLAUS KREIMEIER

„Hauptsache fasrig und synthetisch“ (Trendmeldung der Textilindustrie

Traut man der Werbung, so hat die Microfaser das Regime über die aktuelle Mode angetreten. Hightech-Produkte, die Lycra, Meryl, Elastan oder Tactel heißen, sollen den Leib nicht mehr verhüllen, sondern exponieren. Samt und Seide sind out. Fasrig und synthetisch: Die Mode schmiegt sich einem neuen Sozialtypus an, dem mobil-dynamischen Jungunternehmer der Post-Postmoderne, seinem pragmatisch zugeschnittenen Bildungshaushalt, seinem Sprechduktus, der sparsamen Inneneinrichtung seiner Wohnung und seinem osmotischen Verhältnis zu den Medien. Fasrig und synthetisch sickert Kalifornien in unseren Alltag; Inline-Skater kurven als Botschafter pazifischer Entgrenzung durch Posemuckel. In Mitteleuropa ist das alles noch ein bisschen verhaspelt – wie die Politik der neuen Sozialdemokratie oder die Syntax Ulrich Wickerts.

Kommt hier etwas Neues – oder ist vielleicht alles schon vorbei? Die hellwach Gebliebenen unter den Intellektuellen, wie Noam Chomsky, Pierre Bourdieu oder Terry Eagleton, behandeln die Postmoderne bereits als verblichene romantische Sehnsucht, die flüchtig durch die intellektuellen Mansarden der westlichen Ballungszentren geisterte und nur ihr Design hinterließ. Die „postmoderne Version des formbaren Körpers“, sagt Eagleton, Literaturprofessor in Oxford und Dublin, sei nur „die jüngste Form einer idealistischen Phantasie“. Und furchtlos erinnert er uns an Marx: „Die marxistische Perspektive auf den Körper ist eine sehr viel nüchternere; sie ist weniger aufregend, weniger sexy.“ Marxens Interesse am Leib des Menschen gelte der körperlichen Arbeit und dem Leiden unserer Physis, ihrer „gattungsbedingten Beschränktheit und Hinfälligkeit“. Unverändert sei unser Körper Teil der materiellen Welt – das lasse sich weder „wegkulturalisieren noch weghistorisieren“.

Noch staunen wir angesichts all der neuen Leichtigkeiten, der (glas)fasrig-synthetischen Oberflächen und ihrer magisch blinkenden Benutzerfreundlichkeit, die uns den Abschied vom Analogen und die Freuden digitaler Vernetzungen verheißt. Doch allmählich stellen sich Zweifel ein. Dass wir die Denkleistungen unseres Hirns an die künstliche Intelligenz der Rechner delegieren könnten, ist eine längst verwehte Illusion – und dass unser Triebleben im Cybersex kulminieren würde, hat sich als skurriler Wunschtraum orgasmusfeindlicher Informatiker entpuppt. Wir reisen durch die elektronischen Parallelwelten des Internets und überwinden übertragungstechnisch Raum und Zeit – doch unserem Körper hängen seine Erdenschwere, seine biologischen Unkalkulierbarkeiten und die Aussichten auf geschädigte Bandscheiben noch immer an wie Bleigewichte.

Auf den Diskurs über die fröhliche Auflösung des Physischen antwortet ein anderer, der davon erzählt, dass der technisch-medizinische Fortschritt die leibliche Konstitution des Menschen keineswegs überwunden, sondern ihr nur eine überaus brisante gesellschaftliche Dimension hinzugefügt hat. Der „demographische Faktor“, Pflegeversicherung und Rentendebatte treiben unseren Politikern Schweißperlen auf die Stirn und setzen selbst den Shootingstars der Neuen Mitte Greisenmienen auf, während sie gleichzeitig die Selbststilisierung ihres Körpers betreiben. Auf symbolischer Ebene ist die Love Parade der massenhaft ästhetisierte Ausdruck eines gesellschaftlichen Dilemmas: ein authentisches Event im Zeitalter des Rentenlochs. Ihren Pseudovitalismus kennzeichnet der Berliner Forscher Jens Roselt als „stark sexualisiert“ und gleichzeitig „klinisch rein“ hinsichtlich der körperlichen Tatsachen – Anfassen ist quasi tabuisiert.

Unversehens entblättert sich die Postmoderne zu einer Veranstaltung zwischen Sein und Schein. Einer der offensichtlichsten Widersprüche heutiger Gesellschaften, so Terry Eagleton, bestehe darin, dass es Bereiche gebe, in denen jedermann postmodern sein muss, um nicht unangenehm aufzufallen – zum Beispiel im Supermarkt, in der Disco oder im Medienbetrieb. Zugleich gebe es Bereiche, die es kategorisch verbieten, postmodern zu sein – zumal dann, „wenn man ein Elternteil ist oder ein Lehrer oder ein Richter“.

Eine postmoderne Pädagogik ist so schwer vorstellbar wie ein postmoderner Umgang mit dem Strafgesetz. Mit anderen Worten: In die Kernbereiche sozialer Interaktion, die über das Funktionieren von Gesellschaften entscheiden, dringen kalifornische Anwandlungen nicht vor; sie bleiben in der Sphäre der Gestik, der Symbole und des kunstreichen Als-ob. Postmoderne Politik hingegen ist salonfähig geworden, obwohl sie kein strategisches Gewicht hat. Sie eignet sich bloß als Unterabteilung des Amüsierbetriebs. Unter taktischen Gesichtspunkten ist sie mit erheblichen Risiken verbunden, wie das Beispiel Berlusconi beweist. Sein Aufstieg und Fall, aber auch sein mögliches Comeback zeigen, wie windig und haltlos die politische Postmoderne konstruiert ist. Im Übrigen fällt die relative Vorsicht auf, mit der sich Blair, Schröder und Jospin auf diesem unsicheren Terrain bewegen.

Bleibt die Postmoderne in der Wissenschaft – in ihrer Gestalt als Poststrukturalismus, der einmal aus Frankreich kam, inzwischen jedoch seine fasrig-synthetische Flagge eingezogen hat. Seine Vorschläge, wie die Welt zu verstehen sei, werden heute von den Theoretikern der Simultanpräsenz, der medialen Vernetzung, des Datenuniversums und der Hypertexte überarbeitet. Die Ergebnisse, zu denen sie kommen werden, bewegen sich in einem eklatanten, in der Theoriegeschichte wohl bisher einmaligen Unschärfebereich. Möglicherweise suchen sie jedoch nur Anschluss an eine direkte und lukrative Indienstnahme durch die einschlägige Industrie. Eagleton sieht „ein gefährliches Vordringen der instrumentellen Vernunft in kommunikative Bereiche“ und als Folge „Neurosen und Krisen“, auf die der Wissenschaftsbetrieb womöglich keine Antwort weiß. Die Psychologie sei behavioristisch geworden und die Soziologie rein empiristisch – die Wirtschaftswissenschaften traben ohnehin affirmativ den rasanten ökonomischen Entwicklungen hinterher. Gemessen an der neuen Instrumentalisierung der Vernunft stellt sich postmodernes Denken im Nachhinein als ein verlorenes Abwehrgeplänkel dar.

Mobil und dynamisch, fasrig und synthetisch – schlimmstenfalls wird sich erweisen, dass hier außer Wortgeklingel keine Perspektiven blühen. Und auch dies wäre nicht besonders schlimm – gäbe es nicht den verbreiteten Hang zu einer neuen Psychose, einer Art Hysterie der Affirmation. Begriffe problematischen Inhalts werden blank poliert und als Münzen einer Gegenwährung in Umlauf gebracht, die beansprucht, neue Werte zu implantieren. Eine Werbung im Internet, Juli 2000: „Der Traum von der Selbstständigkeit kann ganz leicht in Erfüllung gehen. Springen Sie einfach als Trittbrettfahrer auf schon erfolgreiche Unternehmenskonzepte auf.“ Könnte sein, dass bei solcher Trittbrettfahrerei nicht nur die traditionelle Moral, sondern auch die Unternehmenskonzepte zum Teufel gehen.

Hinweise:Postmoderne Politik ist salonfähig geworden, aber sie hat kein strategisches GewichtCybersex hat sich als skurriler Wunschtraum orgasmusfeindlicher Informatiker entpuppt

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