: „Große Freiheit“, kaputtsaniert
Arte gelingt beim St.-Pauli-Themenabend (ab 20.45 Uhr) eine über vierstündige Gratwanderung zwischen Voyeurismus und intellektuellem Kiezporträt – und ganz nebenbei die Entzauberung eines hanseatischen Mythos von Toleranz und Solidarität
von PHILIPP SCHULZ
St. Pauli ist der berühmteste Kiez der Welt. Aber warum eigentlich? Schließlich gibt es in jeder Großstadt ein Viertel mit Bars und Bands, Proleten und Prostituierten: Das Hamburger Hafenviertel ist mehr Mythos denn realer Ort. Was es nun genau mit der „großen Freiheit“ auf sich hat, die es hier angeblich zu kaufen gibt, ist heute Abend zu erfahren. Auf Arte. Sicher, der deutsch-französische Kulturkanal setzt nicht zum ersten Mal auf die Zugkraft von Sex and Crime. Doch anders als in den Pseudoreportagen des Kommerzfernsehens serviert der öffentlich-rechtliche Kleinsender neben Voyeurismus auch ein intellektuell sättigendes, kulinarisch ausgewogenes Kiezmenü.
Mit seiner Geschichte des Vergnügens auf St. Pauli ( „Die große Freiheit“, 20.45 Uhr) entwirft Jochen Wolf ein dichtes Fresko vom Leben im Hinterhof der Reichen-Stadt Hamburg, in dem seit Jahrhunderten nicht gesellschaftsfähige Personen Unterschlupf finden. Die verlogene Milieuromantik unzähliger (Sat.1-)Krimis, die die „Rote Meile“ nur zu gern als Kulisse benutzen, wird mit harten Botschaften aus der Wirklichkeit konfrontiert: 470 Mark (!) beträgt das Durchschnittseinkommen auf St. Pauli, mehr als die Hälfte der 32.000 Einwohner hat keinen deutschen Pass, jedes zweite Kind der Schule an der Friedrichstraße lebt heute von Sozialhilfe.
Doch nachts verschwinden die tristen Hausfassaden im Schein der bunten Neonröhren: In 450 Lokalen, 32 Discos, 54 Bordells, 9 Hotels, 6 Theatern, 2 Kinos und 22 Spielhallen amüsieren sich bis zu 200.000 Gäste in einer einzigen Nacht.
Kein Sozialkitsch
Und was sollen die nüchternen Zahlen? Folgt der erhobene Zeigefinger linksliberaler Fernsehredakteure? Droht Arte ausgerechnet auf der Reeperbahn mit Fun-Entzug? – Keine Sorge, hier wird heute Abend kaum Betroffenheit geheuchelt. Fern von allem Sozialkitsch gelingt es der Dokumentation, aus der Geschichte des bunten Tingeltangels selbst eine Art literarisches Varieté zu machen.
Der Schauspieler Urs Affolter entführt als Conférencier in die Welt der Ausrufer und Animateure, die auf dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn bis weit in die 20er-Jahre hinein Matrosen wie Matronen anlockten. Eine „unerhörte Vorstellung“ kündigt der mephistophelische Zeremonienmeister an, und tatsächlich erfahren wir bizarre Einzelheiten: Dass St. Pauli in all seiner Pracht erst entstehen konnte, weil Napoleons Truppen 1814 die Bretterbuden auf dem Hamburger Berg niederbrannten, warum die Straßenbahnhaltestelle Talstraße in den 50ern Hauptversorgungsamt hieß und wie die Aufreißer der Nutella-Gang Mädchen „kippten“.
Der Zeichner Tomi Ungerer besucht seine frühere Freundin Ellen, mit der er vor 14 Jahren einen Folterkeller in der Herbertstraße 7 a teilte. Sein Buch über die „Schutzengel der Hölle“ entstand hier. Während Künstler und Domina über Rohrstöcke und andere Bestecke dieses „schwarzen Spitals“ (Ungerer) fachsimpeln, lässt sich Ellen von einem mit Ledermaske und Nylonstrümpfen ausstaffierten Gast den Staub von den Stiefeln lecken. Und Ungerer kommentiert verständnisvoll; wirbt, wie der gesamte Film, für Toleranz gegenüber jeglicher Spielart sexueller Lust, – vorausgesetzt, sie lässt sich ohne Nötigung eines anderen befriedigen.
Toleranter als Hamburg
Toleranz – mit diesem Begriff wird der Film hier nun doch aufklärerisch – zeichnete das Zwischenreich St. Pauli schon aus, als es noch ein Niemandsland zwischen Hamburg und dem dänischen Altona war: Bis 1867 herrschte in der Straße „Große Freiheit“ Gewerbe- und Religionsfreiheit – in der „Freien und Hansestadt“ nicht.
Und die Toleranz der im protestantischen Hamburg regierenden Sozialdemokraten endet heute wie damals bei Straßenprostitution und Hausbesetzung. Liebesdienerinnen gehören kaserniert, kaputt gesparter Wohnraum saniert. Jahrelange, zeitweilig bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen um marode Mietshäuser an der St.-Pauli-Hafenstraße enden 1995 mit deren Übergabe an die Besetzer. Zwei Jahre später greift der rot-grüne Senat erneut zum Rotstift: Er schließt das Hafenkrankenhaus – und trifft damit wieder nur die Schwächsten, deren unauffälliger Verbleib in St. Pauli den Herren – und, Fortschritt sei Dank, auch Damen – „Pfeffersäcken“ schon immer durchaus ganz recht war.
Linke Klischees? I wo, nackte Tatsachen. Mit denen versorgt uns Arte den ganzen Abend über – in angenehmer Dosierung. Denn zusammen mit dem nachfolgenden Kinodrama „Auf St. Pauli ist der Teufel los“ (22.30 Uhr) ergibt sich ein soziologisch vollständiges Sittengemälde zweier Jahrhunderte. Francesco Rosis ergreifende Geschichte vom naiven italienischen Landarbeiter, der in der unwirtlichen Nachkriegs-Bundesrepublik nur mit Hilfe plumper Bauernfängerei überlebt, beweist so ganz nebenbei, dass St. Pauli bereits damals Multikulti im Kleinen war, wo sich statt Türken und Albanern Italiener und Polen um die Claims balgten.
Warum aber zeigt Arte ausgerechnet einen italienisch-französischen Film, der in Deutschland spielt? Neben Lebensart und (untertiteltem) Wortschwall der Neapolitaner wirkt die Schlichtheit der Paulianer fast schon rührend bescheiden. Napoli in Pauli – das ist der Mythos Reeperbahn durch eine ironiegefärbte europäische Brille gesehen.
Schutt und Asche
Und die Macht dieses Mythos ist so unwiderstehlich, dass selbst die Nazis mitten im Krieg die in Schutt und Asche liegende „Große Freiheit Nr. 7“ in Prag noch einmal auferstehen ließen, um dort den gleichnamigen Film mit Hans Albers zu drehen.
Statt Studiokulissen zeigt Arte, was vom echten St. Pauli 1959 noch übrig, das heißt wieder aufgebaut war. Seine Bewohner wirken als Komparsen mit – und wie! Sie trinken und tanzen, dass es das Herz erfreut: Schieber, Boogie, Twist, Tango und natürlich – Rock ’n’ Roll.
An einen „Durchlauferhitzer“ der Jugendbewegung in den Sechzigern erinnert folgerichtig anschließende Doku „Bye-Bye Star Club“ (0.20 Uhr): Die Beatles eröffneten am 13. April 1962 den „Treffpunkt der Jugend“ auf der Großen Freiheit 39. Axel Engstfeld dokumentiert nun den Abriss des Hauses 1987, und man muss nicht vor Kriegsende geboren sein, um die Wehmut zu spüren, die von der Demontage des Pop-Mekkas ausgeht. Aus jeder Erinnerung, die die kleinen Helden (Lee Curtis) und großen Verlierer (Pete Best, der Drummer, den die Beatles für Ringo Starr feuerten) beisteuern, klingt heraus: Wenn in St. Pauli saniert wird, dann meist auf Kosten der Liberalität. So gesehen, stimmt die Arte-Hommage dann doch einen viereinhalbstündigen Abgesang auf die Große Freiheit an.
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