UMWELTKRANKHEITEN HABEN ANGEBLICH PSYCHISCHE URSACHEN: Vorschnelle Weisheiten
Ein Gutachten der Münchener Klinik Rechts der Isar samt dem dortigen Toxikologieprofessor Thomas Zilker hat Aufmerksamkeit erregt. Ambulant behandelte Patienten wurden dort genauer befragt, wenn sie als Ursache für ihre Krankheit Umweltverschmutzung oder bestimmte Giftstoffe angaben. Das Resultat der Untersuchungen: Vier Fünftel der Patienten sind psychisch mehr oder weniger krank. Beim Rest wurde meist eine andere Krankheit als Ursache für ihr Leiden festgestellt, Umweltgifte kamen praktisch nicht in Frage.
Aussagen des Herrn Professors in Interviews suggerierten: Wenn die Leute sich nicht so viel Umweltverschmutzung einreden würden, sondern sich lieber in eine psychiatrische Behandlung begäben, wären sie gesünder. Bei allem Respekt, aber das ist ein wenig arg bauernschlau. Das Feld der durch chemische Substanzen verursachten Krankheiten ist wirtschaftlich und politisch ein Minenfeld. Da heißt es mit mehr Zurückhaltung zu argumentieren. Wissenschaftlich bewiesen ist nämlich weder, dass die Psyche Schuld hat, noch kann in den meisten Einzelfällen gerichtsfest nachgewiesen werden, welche Substanz nun welches Syndrom auslöst. Dafür ist das menschliche Immunsystem auch zu kompliziert aufgebaut.
Wer die Chemie quasi von jeder wirklichen Schuld freispricht – und das tun einige Toxikologen –, schützt damit die potenziellen Verursacher: vor allem die chemische Industrie als Produzenten, aber auch weiterverarbeitende Betriebe und das Handwerk. Sie alle wenden Substanzen an, mit denen später praktisch die gesamte Bevölkerung in Kontakt kommt – sei es nun als Konsument oder als Arbeiter in einem Betrieb. Und das Minimieren der Gefahren kostet meist Geld und steht damit im Gegensatz zum Maximieren des Profits.
Es ist nun einmal eine Tatsache, dass tausende von Menschen in Deutschland an Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten, oft mehreren Substanzen leiden. Ob man diese Krankheit nun als MCS, also Multiple-Chemie-Sensitivität, oder als starke Allergie bezeichnet, ist dann fast schon egal. Die Kranken müssen den Beruf wechseln, können oft gar nicht mehr arbeiten, verlieren den Kontakt zu den Mitmenschen. Und das nicht nur, weil sie sich nicht mehr „normal“ in einem Restaurant oder einem Supermarkt bewegen können, sondern gerade auch, weil sie als psychisch krank hingestellt werden. Ob sie wegen der Krankheit auch psychische Leiden haben oder umgekehrt, ist für den Schadenersatz eine wichtige Frage. Vorschnelle Weisheiten sollten hier ein wenig genauer überprüft werden. REINER METZGER
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