■ H.G. Hollein: Schwerkraft
Die Wände, zwischen denen ich hause, lassen gelegentlich an Tragfähigkeit zu wünschen übrig. Erst vorgestern morgen brach wieder ein Regalbrett aus der Wand. So was ist nicht schön. Aber ich sehe das philosophisch. Alles ist irgendwann mal hin, und wo wäre dieses Land ohne den Willen zum Wiederaufbau? Schon bedenklicher war, dass ich mich nach ein paar diesbezüglichen abgeklärten Ausführungen eine halbe Stunde später beim Betreten des Büros, in dem ich täglich sitze, einem zusammengebrochenen Ablagetisch gegenübersah. Dem guten Stück waren unter einer unklug plazierten Aktenkiste die Vorderbeine eingeknickt. Hier schien denn doch etwas einreißen zu wollen. Mein Vorschlag, anstelle einer zeit- und personalaufwendigen Reparatur doch einfach zwei Praktikanten mit geneigtem Nacken unter der Tischplatte knien zu lassen, wurde nach kurzer Überlegung leider verworfen. Das wäre ja nichts auf Dauer. Ich finde im Gegenteil, dass diese menschliche Lösung in anschaulicher Form die Flüchtigkeit menschlicher Errichtungen symbolisiert hätte. Und zwar durchaus dauerhaft. Immerhin fand ich so Gelegenheit zu einem längeren Diskurs über die Korrelation zwischen Last und Ewigkeit, den Kollegin P. allerdings rüde mit den Worten abschnitt: „Ich will einfach nur, dass der Sch...tisch wieder steht!“ Das erweckte in Wortwahl und Ton liebe Erinnerungen an daheim. Nachdem ich mit Winkeleisen, Bohrer und Wasserwaage schließlich den status quo ante wieder hergestellt hatte, bohrte ich abends ergeben das häusliche Regal wieder an und war geneigt, das Ganze als zwei der vielen sinnlosen Fährnisse des Alltags abzubuchen. Bis mich – wohl inspiriert durch die Häufung der Ereignisse und meinen unvollendeten Diskurs – eine gewisse Skepsis überfiel und dazu trieb, auch die übrigen Regalbretter einem Belastungstest zu unterwerfen. Bis das neue Standregal steht, ist die Gefährtin erst mal zu einer Freundin gezogen.
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