: Rehkeule statt Assistenten
Die deutschen Historiker haben es lange versäumt, die NS-Vergangenheit ihrer akademischen Lehrer zu betrachten. Der Interview-Band von Konrad Jarausch und Rüdiger Hohls bietet eindrückliche Erklärungen und Ausreden der betroffenen Gelehrten. Eine lohnende Lektüre nicht nur für Historiker
von RICHARD J. EVANS
Oft beneide ich meine Kollegen an deutschen Universitäten, mit ihren gut ausgestatteten Lehrstühlen und ihren kleinen Armeen von Assistenten, Hilfskräften, Sekretärinnen und dergleichen. Wenn ich in Cambridge in meinem überfüllten Zimmer sitze, ganz auf mich allein gestellt, ohne auch nur ein Büro mit meinem Namen im Gebäude der Historischen Fakultät – einem schönen, aber von Grund auf unpraktischen Gebilde, erbaut in den Siebzigern von Sir James Stirling, in dem nicht einmal ein Bruchteil der Professoren über ein eigenes Büro verfügt –, ja, dann kommt mir manchmal der Gedanke, ich würde gern mit den deutschen Kollegen tauschen. Es stimmt schon, das College bietet mir Privilegien, wie zum Beispiel zehn kostenlose Mahlzeiten pro Woche. Und die sind meist wirklich großartig. Vor ein paar Tagen bekamen wir doch tatsächlich Rehkeule in einer Weinsauce mit Wildschweinwürstchen. Und das bloß zum Mittagessen. Wenn mir jedoch die Arbeit über den Kopf wächst, dann denke ich oft, ich hätte lieber nur ein paar Sandwiches und dafür ein oder zwei Assistenten zur Unterstützung meiner wissenschaflichen Arbeit.
Andererseits hat auch das deutsche System seine Nachteile. Der junge, hoffnungsvolle Akademiker hängt fast vollständig vom guten Willen und der Patronage des Professors ab. Hat man in England seinen Doktor, bekommt man in der Regel sehr schnell eine dauerhafte Stelle; in Deutschland dagegen muss man zwei Examen hinter sich bringen und ist bis zum Abschluss des mühsamen Habilitationsverfahrens auf eine Reihe befristeter und ungesicherter Assistentenstellen angewiesen. Häufig geht man auf Ende dreißig zu, bevor man eine unabhängige Position erringen kann. Dieses Prozedere verleiht den Professoren eine enorme Macht – und das gilt ganz besonders für die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, mit der sich nun ein Buch befasst.
Konrad Jarausch und Rüdiger Hohls hatten die geniale Idee, eine Reihe prominenter Historiker der Jahrgänge zwischen 1922 und 1942 nach der Beziehung zu ihren Doktorvätern in der Nachkriegszeit zu befragen, als sie an ihren Dissertationen arbeiteten (die Interviews haben sie natürlich von ihren Assistenten und Hilfskräften durchführen lassen). Anlass zu dieser Übung war der Streit, der beim Historikertag 1998 entbrannte, als Götz Aly, Peter Schöttler und andere Außenseiter der Historikerzunft die Nachkriegsgeneration der Historiker beschuldigten, sie hätten es versäumt, ihre Doktorväter zu befragen, was sie während der Zeit des Nationalsozialismus getan hätten. Warum mussten wir bis in die 90er-Jahre warten, fragten sie, bevor die tiefe Verstrickung vieler dieser Professoren mit dem nationalsozialistischen Regime ans Licht gebracht werden konnte?
In diesen Interviews finden sich viele Erklärungen dafür, warum solche „versäumten Fragen“ nicht gestellt wurden. Einige davon wirken nicht überzeugend. Hans Mommsen zum Beispiel legt nahe, die 50er-Jahre seien von einer „Herrschaft alternder Männer“ bestimmt gewesen, weil aufgrund der weitgehend fehlenden Kriegsgeneration eine große Alterslücke entstanden sei – zwischen den älteren Professoren, die nach dem Kriege die Zunft wieder aufbauten, und den jungen Doktoranden zu ihren Füßen. Aber unter den Professoren waren Werner Conze und Karl Dietrich Erdmann bei Kriegsende erst 35, Theodor Schieder war erst 37. Die Alterslücke taugt als Argument gegen die versäumten Fragen also kaum.
Als wichtigste Figur tritt uns aus diesen Interviews zweifellos Theodor Schieder entgegen, der mit seinem breiten historischen Wissen und seiner Toleranz für Ansichten, die sich scharf von den seinen unterschieden, eine hervorragende Gruppe von Studenten um sich scharte, darunter Hans-Ulrich Wehler, Helmut Berding, Dirk Blasius, Lothar Gall, Wolfgang Mommsen und viele andere. Schieder verhielt sich gegenüber seinen Studenten offensichtlich sehr loyal, selbst wenn – wie im Falle Wehlers – ihre wissenschaftlichen Methoden und Schlussfolgerungen vielen seiner Kollegen als zu radikal erschienen. Wehlers Karriere als Historiker wäre ohne Schieder womöglich gescheitert, kaum dass sie überhaupt begonnen hatte.
Ein Schock für die früheren Studenten war es dann, als Karl Heinz Roth vor einigen Jahren herausfand, dass Schieder im Jahre 1939 ein Memorandum verfasst hatte, in dem er die massenhafte Vertreibung von Polen aus den eroberten Gebieten im Osten empfahl, um Platz für deutsche Siedlungen zu schaffen. Warum haben sie davon nie etwas erfahren? Aus einem einfachen Grund: Die Fünfzigerjahre waren definitiv die Zeit, in der kollektiver Gedächtnisverlust den Umgang mit der nationalsozialischen Vergangenheit beherrschte. Zudem war die Beziehung der jungen Doktoranden zu ihren Förderern derart, dass persönliche Fragen schlicht nicht in Betracht kamen. Mehrere der in dem Band Befragten geben zu, dass Nachforschungen zum Verhalten der Doktorväter in der NS-Zeit sie womöglich Karriere und Job gekostet hätten.
Vielleicht erklärt der Begriff „Doktorvater“ wirklich etwas mit Blick auf die Gruppe junger Historiker, von denen einige, wie Hans-Ulrich Wehler und Imanuel Geiss, ihre Väter im Krieg verloren hatten, oder, wie die Brüder Hans und Wolfgang Mommsen, ihren Vater von Feinden verleumdet sahen, die einige seiner unglücklichen Nazi-Formulierungen aus einem Buch ausgruben, das er während der NS-Zeit geschrieben hatte.
Während die individuellen Geschichten von vielen dieser Ex-Doktoranden faszinieren, liegt die wahre Bedeutung des Bandes von Jarausch und Hohls in den standardisierten Fragen zu grundlegenden Themen der Geschichtswissenschaft. So vertraten die meisten Historiker die Ansicht, dass die nationalsozialistische „Volksgeschichte“ keinen großen Einfluss auf die Sozialgeschichte nach dem Krieg hatte, dass eine Reihe von Historikern im Nationalsozialismus mehr als Mitläufer waren und die Kontinuität der Personen nach 1945 groß war. Wie dem auch sei, die Antworten werden dann bemerkenswert ausweichend, wenn es darum geht zu entscheiden, ob Conze und Schieder ihre intellektuellen Entgleisungen während der NS-Zeit mit ihrem vorbildlichen Wissenschaftlerdasein in der Bundesrepublik kompensieren wollten.
Vielleicht ist diese Frage auch nicht endgültig zu beantworten. Deutlich wird auf jeden Fall, dass die Fragen, die diese Historiker nicht stellten, weit weniger wichtig waren als diejenigen, die sie wirklich gestellt haben. Diese Generation brach radikal mit dem traditionellen Konservativismus der Historikerzunft und befasste sich mit Themen wie der deutschen Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs oder den tieferen Wurzeln des Nationalsozialismus und der Einstellungen, die ihm in der deutschen Kultur und Politik Vorschub leisteten. Abschließend stellen die Herausgeber zu Recht fest, dass die aktuelle Kontroverse sich überraschend und wohl auch unglücklich auf die linksliberalen Historiker konzentriert und damit die Aufmerksamkeit von anderen Historikern ablenkt, die noch immer konservative, revisionistische oder sogar rechtsradikale Positionen vertreten – wie Ernst Nolte, Rainer Zitelmann oder Hellmut Diwald.
„Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus“. Hrsg. von Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch. DVA, Stuttgart 2000. 528 Seiten, 29,80 DM(Übersetzung: Meino Büning/dah)
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