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Nomade in Prenzlauer Berg

In der neuen Suhrkamp-Gesamtausgabe ist der erste Band mit Stücken von Heiner Müller erschienen. War das von ihm propagierte Leben in der DDR wirklich ein „Aufenthalt im Material“? Ein Rückblick

von JÜRGEN BERGER

„Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ entstand Ende der Fünfzigerjahre. Das Stück steht für eine Zäsur in seinem Leben, und die Ereignisse um das Stück bestätigten, dass Heiner Müller genau richtig war in der DDR, wo einer wie er immer am falschen Ort sein musste. Gerade war ihm der Heinrich-Mann-Preis des Deutschen Theaters zugesprochen worden. Er konnte zum ersten Mal ohne Gelddruck arbeiten und schrieb die Szenen aus der Frühphase eines die Abgründe der Bodenreform in der jungen DDR nachvollziehenden Stückes. Es muss wohl eine der angenehmsten Zeiten Müllers gewesen sein. „Ich schrieb mit dem Gefühl der absoluten Freiheit im Umgang mit dem Material, auch das Politische war nur Material. Der Spaß bestand auch darin, dass wir böse Buben waren, die dem Lehrer ins Pult scheißen“, erinnert er sich in seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“.

„Die Umsiedlerin“ ist von zentraler Bedeutung. Man kann bereits sehen, dass eine Einteilung der Müller-Stücke etwa in „realistische“ und „metaphorische“ unsinnig ist. Selbst seine die Aufbauphase der DDR anscheinend realistisch nachvollziehenden Geschichten aus der Produktion waren stark metaphorisch und mit antik-parabelhaften Sätzen durchzogen. Von Anfang an war für ihn „der Aufenthalt in der DDR in erster Linie ein Aufenthalt in einem Material“. Die Hochphase seiner Materialsammlung war Anfang der Fünfzigerjahre und fand in Form eines nomadisches Kneipenlebens in Prenzlauer Berg mit dem Hauptstützpunkt Café Nord, Ecke Schönhauser Allee/Wichertstraße, statt.

Dann allerdings kamen die Turbulenzen um die „Umsiedlerin“. Als „Beckett des Ostens“ beschimpfte man Müller, und der damals 32-Jährige konnte stolz sein, dass Sätze wie „Und mit der Nabelschnur wird dir von Anfang / Der Rückmarsch in die Mutter abgeschnitten“, die er einen Bauer in der „Umsiedlerin“ sagen lässt, durchaus Beckett-Assoziationen rechtfertigten. Das Pech des bösen Buben Heiner war, dass während der Endproben des Stückes die Mauer gebaut wurde. Die Konsequenz: Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, brotlose Jahre und das Stück „Philoktet“, das er in dieser Zeit schrieb.

Liest man die Stücke aus dieser Zeit und die Mitte der Sechzigerjahre entstandenen „Der Bau“ (nach Motiven aus Erich Neutschs Roman „Spur der Steine“, der parallel zu Müllers Dramatisierung mit Manfred Krug in der Hauptrolle verfilmt wurde) sowie „Herakles 5“ im Abstand von über dreißig Jahren, wird deutlich: Müller schrieb immer dialektisch gebrochen und kehrte die Verhältnisse so lange schreibend gegeneinander, bis Gut und Böse, Richtig und Falsch, ja schließlich er selbst nicht mehr politisch korrekt dingfest zu machen waren.

„Der Kot ist die andere Bedingung des Fleisches. Und seine letzte Gestalt. Kein Ausweg aus der scheißenden Gemeinschaft als in die Demokratie der Toten“, ließ er den Rinderbesitzer Augias zum tumb-muskelstrotzenden Herakles sagen, und beiderseits der Mauer war nur klar, dass nichts klar war. Dass seine Stücke nach der Affäre um die „Umsiedlerin“ jahrelang im Tresor bleiben mussten, dürfte auch damit zu erklären sein, dass es den DDR-Kulturchargen ob eines Autors mulmig wurde, dessen Klassenstandpunkt nicht klar zu verorten war und der den Menschen als ein in Widersprüche gezerrtes Individuum darstellte.

Das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Theatertexte und kann demnächst geballt nachgelesen werden. Bis nächstes Frühjahr sollen voraussichtlich alle drei Stückebände in der neuen Suhrkamp-Gesamtausgabe erscheinen. Gerade herausgekommen ist der erste Band und bildet nach den Gedichten und der Prosa die Nummer drei einer auf acht Bände angelegten Gesamtausgabe, für die man den Müller-Nachlass noch sichtet. Die Stücke aus der Zeit von 1947 bis 1967 sind chronologisch geordnet. Neben den schon erwähnten findet man unter anderem „Der Lohndrücker“ und die beiden Fassungen der „Korrektur“. Wer von Mitte der Siebziger- bis Ende der Achzigerjahre die elf Rotbuch-Bände mit Müller-Stücken gesammelt hat oder die im gleichen Zeitraum bei Henschel verlegten Stückbände besitzt, muss nicht unbedingt in Richtung Suhrkamp schielen, kann angesichts der neuen Ausgabe aber ein Gefühl von Vollständigkeit in sich aufsteigen lassen.

In den Suhrkamp-Bänden sind zum ersten Mal auch Stücke und Entwürfe aus Müllers Nachlass enthalten. Große Überraschungen zu erwarten, wäre übertrieben. „Wohnung Frank . . .“ aus dem Jahr 1947 etwa ist eine kleine Fingerübung über den Konflikt zwischen Idealismus und Glauben an die sozialistische Utopie auf der einen und Skepsis und Liebäugeln mit dem Westen auf der anderen Seite. „Die Liebe der Marie A.“ (vermutlich 1950) bestätigt, dass Müller seinen Büchner genau gelesen hat. Und nimmt man das fertige Stück „Held im Ring. Optimistische Tragödie. Festliches Requiem für Werner Seelenbinder“ aus den Jahren 1950/51 dazu, wird deutlich, dass Müller zu Recht nur drei der Szenen gelten ließ und das Ganze als unbefriedigenden Liebesdienst für einen dubiosen Funktionär aus dem Ministerium für Kultur ansah.

Was Müller da geritten hat, wird auch in dessen Autobiografie nicht deutlich. Und wie der Suhrkamp-Herausgeber, Frank Hörnigk, in seinen bibliografischen Notizen mit den Hintergründen der Stückentstehung umgeht, ist insofern unbefriedigend, als der Germanist von der Berliner Humboldt-Universität äußerste Sparsamkeit walten lässt. Müller habe „Stationen aus dem Leben des Sportlers Werner Seelenbinder zwischen 1934 und 1944“ nachzeichnen wollen, vermerkt Hörnigk und hält nicht einmal den Verweis für nötig, dass Seelenbinder Ringer und Kommunist war und bei den Olympischen Spielen 1936 den Hitlergruß verweigerte. Wer das wissen will, muss Müllers „Krieg ohne Schlacht“ lesen.

Dass Hörnigk Basisinformationen zurückhält, ist unverständlich, wenn nicht eine weit reichende editorische Inkonsequenz. Zwar werden die Stücke chronologisch herausgegeben, das allerdings geschieht abseits von Müllers Materialbegriff. Konsequent wäre gewesen, all seine Texte ungeachtet der gängigen Gattungsbegriffe Lyrik, Epik und Dramatik chronologisch zusammenzustellen, wodurch zum Beispiel Müllers intensive Beschäftigung mit der griechischen Antike um 1960 auch durch die Zusammenstellung etwa des „Philoktet“ und des Gedichts „Ödipuskommentar“ deutlich geworden wäre.

Unverständlich ist das auch insofern, als Hörnigk selbst in einer Nachbemerkung zum Gedichtband auf einen Appell Müllers an künftige Herausgeber verweist. „Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet sein Hinweis zur Ordnung des Materials nichts anderes als die Auflösung jeder Vorstellung linearer Kausalität zugunsten eines Textbegriffs, der allen Verbindlichkeiten tradierter literarischer Gattungseinteilungen entgegensteht.“ Diesem Anspruch habe die Edition nicht nachkommen können, fügt Hörnigk an und hätte wohl sagen müssen, dass man es mit Blick auf die Verkäuflichkeit der Ausgabe nicht wollte.

Auch hinsichtlich der Inszenierungsgeschichte der einzelnen Stücke verfährt Hörnigk eher nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Es bleibt also Raum für des Lesers eigene Geschichte mit Müller-Material, die in meinem Fall Anfang der Achzigerjahre mit einem Grenzübertritt begann. Ziel war die Volksbühne und eine Inszenierung von Müllers „Die Bauern“. In Erinnerung geblieben ist vor allem eine stoische Gruppe Volksarmisten zwei Reihen weiter vorne, völlig unbeweglich und scheinbar unbeeindruckt. Später kam der Versuch, Rotbuch-Bände mit Müller-Stücken für Freunde über die „Zonengrenze“ zu transportieren, worauf der Grenzsicherungsbeamte spröde reagierte.

Gegen Müllers wachsende Bedeutung im Westen allerdings konnte kein Grenzer der Welt Schutzwälle errichten. Vor allem im Frankreich der Neunzigerjahre gewann der dunkle Deutsche Kultstatus. Zum Theaterfestival in Avignon 1991 erreichte die französische Müllermania einen ersten Höhepunkt und mündete in einer „Nuit Müller“ von abends zehn bis morgens sechs mit „Hamletmaschine“, „Korrektur“, „Quartett“ und „Verkommenes Ufer. Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten“ – am Stück wohlgemerkt. „Oh, les Allemands“, meinte eine französische Freundin hinterher immer höflich, wenn die Sprache auf Heiner Müller kam, und das Ganze sei ihr denn doch etwas düster vorgekommen.

Ihr subkutaner Eindruck würde sich heute wohl bestätigen, sähe sie die Anthrazit-Einbände, die der Suhrkamp-Verlag den Müller-Bänden verpasst hat. Warum man sich für das zum Schwarz tendierende Grau entschieden hat, kann eigentlich nur damit erklärt werden, dass man Käufer abhalten und somit verhindern will, was schon nach mehrmaligem Aufschlagen der kartonierten Bände geschieht. Die Seiten lösen sich und führen ein Eigenleben. Es sei dahingestellt, welcher Suhrkamp-Autor eine derartige Leimung verdient hätte – good old Heiner auf keinen Fall. Wer sich also zum Kauf entschließt, sollte nicht zu den kartonierten, sondern gleich zu den nur unwesentlich teureren Leinen-Bänden greifen.

Heiner Müller: „Werke 3. Die Stücke 1“. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000, 555 S., Kartoniert 54 DM, Leinen 68 DM

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