: In fremden Körpern
Wer sich von der Weisheit der Clowns trösten lassen will: Das „Internationale Tanzfest Berlin“ lässt gar nichts aus
Jedes Jahr wird das Festival „Tanz im August“ von Workshops begleitet. Manchmal glimmt dort der erste Funke an einer Zündschnur auf, der dann später zur Explosion führt. Im Podewil war es jetzt soweit. Aufeinander getroffen waren im August 99 der flämische Regisseur Michael Laub und die junge Performerin Astrid Endruweit, die zusammen „Pigg in hell“ erarbeitet haben. Er ist seit zwanzig Jahren zuständig für die lustvolle Demontage bekannter Film- und Theaterstoffe, treibt ein hellsichtig doppeltes Spiel, das keine Verwechslung mehr von Rolle und Darsteller zulässt. Sie steht zum ersten Mal auf der Bühne und packt ihr Leben als Heimerzieherin und Studentin der Sinologie in ihr Solo. Nie hätte man von Michael Laub, der eher für ironische Distanz bekannt ist, solch ein Festkrallen im Hier und Jetzt, solch ein obsessives Wühlen in Verzückung und Schmerz erwartet.
Endruweit verdreht den Blick, schaltet die Außenwelt ab und taucht. Sie surft durch fremde Körper, durchquert pubertierende Jugendliche, masturbierende Blinde und vom Geist losgelöste Körper, die lüstern mit dem Hinterteil wackeln. Sie biegt sich wie die Figuren der Gotik, deren Seelen schon gen Himmel schweben. Sie erzählt von Prostitution und Beschädigung, Versagen und Angst. Obszönität ist ihr Schlüssel, unter die Oberfläche zu dringen. Sie wringt sich aus wie ein Handtuch, das fast dabei zerreißt. Oh Künstlerin, mir graut vor dir.
Für Endruweit scheint der Körper ein Medium, empfänglich für die Stimmen der Bedrängten. Für die russische Gruppe Saira Blanche, die im gleichen „Double Feature“ auftreten, scheint der Körper ein Puzzlespiel, dessen Teile Geschichten unterschiedlicher Herkunft transportieren, die einander immer ein wenig fremd und rätselhaft bleiben und nie zu einem vollständigen Bild gefügt werden können. Ganz und gar eindeutig hingegen las das argentinische Duo Lesgart-Sanguinetti in ihrem Stück „Hondo“ den Körper als ein Gefängnis, gebaut aus Trieb und Konvention. In „Document 1“ der Kanadierin Lynda Gaudreau wurde der Körper mit Präzision und Zärtlichkeit in seine Elemente zerlegt und durchdekliniert: Hände, Füße, Gelenke. So beweisen die Gastspiele von „Tanz im August“, dass der Begriff „Tanz“ oft nur ein notdürftiger Deckel auf einem überbrodelnden Topf ist.
Hineingeworfen in diesen Topf hat Philippe Decouflé, der mit „Shazam!“ das Tanzfest im Schillertheater eröffnete, Zirkus, Artistik, Film und neun sehr sympathische Darsteller, die dem Zuschauer zwischendurch die Schwierigkeiten des Stücks – aus technischen, künstlerischen und Gründen der Beziehungen – in rührendem Deutsch erklären. Was der Tanz zwischen den Polen der Authentizität und der Negierung des Subjekts an Diskurs aufzubieten hat, verhandelt Decouflés Tanzfamilie in einer clownesken Szene. „Oh mein Körper, wenn du da bist, gib mir ein Zeichen!“ lautet die Beschwörungsformel. Doch klappt es, wissen die Tänzer so wenig wie das Publikum: „Was will mir der Körper eigentlich sagen?“
Was dem Körper im virtuellen Raum zustoßen könnte, welche Doppelgänger und Monster er dort zu zeugen droht, hat Decouflé längst schon durchgespielt: Mit Spiegeln, die den ganzen Tänzer oder Teile seines Körpers verdoppeln, mit Filmen, die den Tanz auf der Bühne simultan in andere Räume versetzen und mit Projektionen, die aus verschiedenen Perspektiven ein und denselben Bewegungsablauf fassen, baut er eine ornamental verschachtelte Choreographie. Verschwenderisch in den Einfällen, hemmungslos verspielt, voller Bilder des Surrealen und Barocken, des Konstruktivismus und der Dekonstruktion fackelte die Pariser Truppe ein Feuerwerk ab, das für mehrere Abende gereicht hätte. Schade, dass sie wie alle Tanzfestgäste, nach drei Tagen wieder einpackten.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Double feature von Saira Blanche und „Pigg in hell“, Podewil, 17. 8., 20.30 Uhr. Weiteres Programm unter www.tanzfest.de
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