piwik no script img

„Radikalenerlass“ spaltet die Türkei

In der Türkei wollen Ministerpräsident Ecevit und die Militärs Islamisten und „Separatisten“ aus dem Staatsdienst entfernen. Ahmed Sezer, Staatspräsident von Ecevits Gnaden, stellt sich aus Überzeugung quer. Nun fragt sich die Nation: Darf der das?

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Bülent Ecevit ist ein zurückhaltender Mensch. In der Öffentlichkeit würde der türkische Ministerpräsident sich nie zu einem Fluch hinreißen lassen. Doch ausgerechnet der Mann, der auf seinen Vorschlag hin im April zum neuen Präsidenten der Türkei gewählt wurde, macht ihm jetzt das Leben schwer.

Als Ecevit nach der Abstimmungsniederlage des alten Präsidenten Süleyman Demirel den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, Ahmet Necdet Sezer, aus dem Hut zauberte, schien er die rettende Idee gehabt zu haben. Der parteilose Richter war als Politiker ein völliger Neuling und deshalb scheinbar leicht zu beeinflussen. Darüber hinaus galt Sezer als strammer Kemalist, der sich in den Traditionen der Republik bewegt. Dass er außerdem noch gerne von demokratischer Erneuerung und Rechtsstaat redete, machte ihn in Zeiten der Beitrittsverhandlungen mit der EU noch attraktiver.

Doch Ahmet Necdet Sezer sorgte für eine Überraschung: Er nahm seine eigenen Sonntagsreden ernst. Sezer weigert sich beharrlich, ein Dekret der Regierung zu unterzeichnen, mit dessen Hilfe vermeintliche Symphatisanten illegaler islamischer oder separatistischer Organisationen aus dem Staatsdienst entlassen werden können.

Sezer moniert an dem Dekret sowohl den Inhalt als auch die Form. Für eine Entlassung soll ein Bericht von zwei Inspektoren ausreichend sein, was Willkür und Denunziation Tür und Tor öffnet. Darüber hinaus ist Sezer der Meinung, dass für eine so einschneidende staatliche Maßnahme ein Regierungsdekret nicht ausreicht, sondern das Parlament ein Gesetz verabschieden muss.

Da ein Gesetz im Parlament voraussichtlich keine Mehrheit finden würde, besteht Ministerpräsident Ecevit darauf, dass Sezer das Dekret bis spätestens Ende des Monats in unveränderter Form unterschreibt. „Ich möchte nicht einmal an die Möglichkeit denken, dass er es nicht tut“, sagte Ecevit auf die Frage, was denn passiert, wenn Sezer weiterhin standhaft bleibt.

Hinter Ecevit steht in diesem Fall das Militär. Das Dekret ist Teil eines Maßnahmenpakets, das die Militärs im Nationalen Sicherheitsrat zur Bekämfung des islamischen Fundamentalismus durchgedrückt haben und auf dessen Umsetzung sie bestehen. Weigert sich Sezer, da mitzumachen, hat er bald nicht nur Ecevit gegen sich, sondern den Generalstab und in dessen Gefolge auch die staatstragende Presse.

Schon jetzt wird spekuliert, ob der aufrechte Richter bereits vor seinem Rücktritt steht. Sezer hat keine eigene Hausmacht und keine Erfahrung darin, wie man die Massen hinter sich bringt. Bislang überraschte er das Volk vor allem mit seiner persönlichen Bescheidenheit. Sezer will die Dienstvilla des Präsidenten nicht beziehen. Er sorgte dafür, dass auch die Autokolonne des Präsidenten vor einer roten Ampel stoppt, und kürzlich fotografierte ihn die größte Tageszeitung beim Einkauf im Supermarkt.

Rechtlich ist offenbar unklar, wie es im Falle eines Patts zwischen Regierung und Präsident weitergehen soll. Während einige Juristen meinen, Sezer müsse das Dekret bei einer wiederholten Vorlage durch die Regierung unterzeichnen, gehen andere davon aus, dass ihm für diesen Schritt keine Frist gesetzt ist und er die Geschichte schlicht und einfach aussitzen kann.

Sezers einzige Chance besteht darin, den reformbereiten Teil der Gesellschaft hinter sich zu bringen und seine Schritte mit den für die EU-Beitrittsverhandlungen notwendigen Reformen zu synchronisieren. Schließlich will auch das türkische Militär den Prozess der EU-Integration nicht ernsthaft beschädigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen