: Schöner wohnen dank Erdbeben
Breite Schneisen im Grün, Container aus Blech – man braucht schon viel Fantasie, um sich die neue Stadt vorstellen zu können
aus Adapazari JÜRGEN GOTTSCHLICH
So stellt man sich eine ländliche Idylle vor. Grüne, sanft abgerundete Hügel, erste Gerstenfelder an niedrigeren Hanglagen, dazwischen Viehweiden und immer wieder einzelne Waldstücke. Vom Aussichtspunkt über dem Dorf hat man einen weiten Blick in die Ebene, bis zu einem Höhenzug im Süden. Nach Norden geht es ebenfalls in die Berge, dahinter, nach nur 30 Kilometern Landstraße, kommt das Schwarze Meer. Vor dem Höhenzug im Süden, in der Tiefebene ausgebreitet, erkennt man das Weichbild einer großen Stadt: Adapazari, 150 Kilometer östlich von Istanbul, direkt an der Autobahn gelegen, die Ankara mit Istanbul verbindet.
Eine Stadt für 300.000 Menschen
Der unmittelbar gegenüberliegende Hügel ist von einem merkwürdigen Muster gezeichnet. Exakt rechtwinklig sind breite Schneisen in das Grün geschlagen und breiten sich nun wie ein Gitter über der gesamten Fläche aus. „Hier“, sagt Fikret Bayhan und macht eine weit ausholende Armbewegung, „hier beginnt das neue Adapazari.“ Bayhan ist Chef des Stadtplanungsamtes Adapazari. „Bis zum Ende des Jahres werden wir hier Häuser für 15.000 Menschen gebaut haben.“ Die Behauptung widerspricht dem Augenschein reichlich. Man muss schon viel Phantasie haben, um sich die breiten Boulevards, die hier entstehen sollen, vorstellen zu können, die Einkaufszentren, die Kinos und die Häuser, in denen in zehn Jahren 300.000 Leute leben sollen.
300.000 ist die Planziffer für die Stadt, die in den grünen Hügeln auf einem Gebiet von insgesamt 1.500 Hektar neu gebaut werden soll. Es ist – nach den Staudämmen, die der türkische Staat im Osten des Landes an Euphrat und Tigris hochzieht – wohl das größte Infrastrukturprojekt, das in der Türkei zur Zeit realisiert wird. Denn wie die Schneisen zeigen, haben die Arbeiten tatsächlich begonnen. „Dass hier die Raupen fahren, haben wir nur dem Erdbeben zu verdanken“, sagt Fikret Bayhan. „Vor dem Beben hatten sie in Ankara für unsere Pläne nur ein müdes Lächeln übrig.“ Erst nachdem das Erdbeben vor einem Jahr im August Adapazari in Schutt und Asche legte, gab es für die Realisierung einer neuen Stadt grünes Licht.
Wenn man sich Adapazari von Westen aus nähert, hat man anfangs noch den Eindruck, in eine ganz normale Stadt zu kommen. Erst allmählich fallen einem die vielen Freiflächen ins Auge, und man fragt sich, warum so viele Geschäfte in Blechcontainern untergebracht sind. Wenn dann die ersten Ruinen auftauchen, die aus Geldmangel nicht abgerissen wurden, wird jeder Fremde darauf gestoßen, dass Adapazari eben keine normale Stadt mehr ist. Neben Izmit und Gölcük war Adapazari die Stadt, die von dem großen Beben am 17. August am härtesten getroffen wurde. Legt man die Zahlen, die die Stadtverwaltung von Adapazari über die Anzahl der zerstörten Gebäude angibt, zugrunde, ist Adapazari sogar die am stärksten zerstörte Stadt insgesamt: 47 Prozent aller Häuser (insgesamt gab es 13.797 Gebäude) wurden danach völlig zerstört, weitere 43 Prozent sind unbewohnbar, und nur noch zehn Prozent gelten als intakt.
Unsicherer Boden
Auch die Stadtverwaltung ist, über die ganze Stadt verteilt, provisorisch untergebracht. Der Bürgermeister und sein Stab residieren in einer ehemaligen Schule, auf dem Schulhof arbeitet in Containern das Finanzamt. Ridvan Duran ist einer der engsten Mitarbeiter des Bügermeisters und ein vehementer Verfechter für die Umsiedlung Adapazaris. Sein Hauptargument ist der unsichere Grund, auf dem die heutige Stadt steht. Das Erdbeben im August 1999 war bereits das dritte schwere Beben, von dem Adapazari im letzten Jahrhundert betroffen war. Schon 1943 und noch einmal 1967 wurde die Stadt stark zerstört – es gab nur deshalb nicht so viele Tote, weil die meisten Häuser nicht höher als ein Stockwerk waren. Bereits nach dem Beben von 1967 wurde davon geredet, die Stadt zu verlegen, doch die Debatte blieb folgenlos. Im Gegenteil, die verkehrsgünstige Lage von Adapazari führte dazu, dass große Industrieansiedlungen entstanden und die Stadt von rund 20.000 auf 200.000 Einwohner anwuchs. Seit 1994 hat die Crew des Bürgermeisters dann Pläne für eine Verlegung der Stadt entwickelt, aber für die Realisierung gab es kein Geld. Offiziell starben am 17. August 3.891 Menschen durch das Erdbeben, inoffiziell reden selbst Mitarbeiter der Stadtverwaltung von fast 15.000 Toten. Danach war dann das Geld da.
„Unser Job“, sagt Ridvan Duran, „ist es, zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Deshalb bauen wir die neue Stadt.“ Der Grund in den Hügeln gilt als erdbebensicher, nach und nach sollen alle Menschen aus dem jetzigen Adapazari dorthin umgesiedelt werden, während die Industrie im Tal bleiben soll. „Nach zwanzig, dreißig Jahren“, so hofft Fikret Bayhan, „wird im heutigen Adapazari niemand mehr wohnen.“
Das planerische Vorbild der neuen Stadt sind amerikanische Suburbs – kleine Gebäude, großzügig im Gelände verteilt. Der Flächenverbrauch ist deshalb enorm. Doch Ridvan Duran gibt sich problembewusst: „Wir werden den Wald und die alten Dörfer stehen lassen und die neue Stadt darum herum bauen.“ Adapazari wird die modernste Stadt Europas, glaubt Duran, gerade weil sie „so amerikanisch“ werden soll.
Finanziert wird die neue Stadt zum einen aus dem nationalen Erdbebenfonds, einen Teil baut direkt die Weltbank, und der große Rest soll über privates Investment kommen. Die meisten Menschen, deren Häuser im August letzten Jahres zerstört wurden, leben jetzt in mehreren großen Containersiedlungen auf dem Weg von Adapazari-Alt nach Adapazari-Neu. Sie sollen in der neuen Stadt zuerst eine Wohnung bekommen und sind deshalb von der Planung begeistert. Aber auch die meisten anderen Einwohner sind für eine Umsiedlung. „Adapazari“, sagt ein Händler, „war sowieso zu klein und brauchte mehr Platz, um sich zu entwickeln. Die Stadt wird nun ihre Schale sprengen.“
Große Bereitschaft zum Umsiedeln
„Es gibt“, sagt Planungschef Fikret Bayhan, „bei den Einwohnern Adapazaris eine große Bereitschaft, in die neue Stadt umzusiedeln. Viele Leute haben sich zu Kooperativen zusammengeschlossen und werden in der neuen Stadt gemeinsam bauen.“
Auf dem Reißbrett von Fikret Bayhan ist die schöne neue Welt von Adapazari bereits fertig. Der Planungschef, selbst erst Mitte dreißig, hat sich mit einem Team meist noch weit jüngerer Architekten und Stadtplanern mit Haut und Haaren in das Projekt gehängt. „Wir arbeiten 16 Stunden am Tag, aber es geht voran.“ Die Planung sei auch nicht nur am grünen Tisch entstanden, sondern in öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt und diskutiert worden. „Wir haben die Wünsche der Bewohner berücksichtigt“, behauptet Bayhan.
Problematisch wird es wohl für diejenigen, die vom Staat keine neue Bleibe gestellt bekommen, weil ihre jetzigen Häuser nur beschädigt und nicht völlig zerstört sind, und die selbst nicht genug Geld haben, um sich in der Neustadt einzukaufen. Sie bleiben in ihren unsicheren Häusern an einem Platz, der langsam verslumt, weil alle Investitionen in die neue Stadt gehen. Die Häuser in Adapazari sind, wie in den anderen vom Erdbeben betroffenen Städten auch, von Ingenieuren, die das Bauministerium in Ankara beauftragt hat, begutachtet und danach eingeteilt worden, ob sie noch bewohnbar sind oder nicht. „Das ist oft sehr oberflächlich geschehen“, kritisiert Fikrit Bayhan, „nicht zuletzt mit dem Ziel, die Zahl der Anspruchsberechtigten für eine staatlich subventionierte Ersatzwohnung gering zu halten.“ Aus eigener Initiative lässt Bayhan sämtliche Häuser in Adapazari jetzt noch einmal untersuchen. „Wir werden unsere Ergebnisse nach Ankara schicken. Vielleicht erreichen wir, das mehr Wohnungen im neuen Adapazari vom Staat zur Verfügung gestellt werden“.
Arme ziehen in die alten Häuser
Doch auch dann wird das Ziel, alle Menschen aus dem alten Adapazari raus in die Hügel umzusiedeln, nur schwer zu erreichen sein. In Adapazari zeigt sich, wie in den anderen Erdbebenstädten, ein Phänomen, über das zwar niemand gerne redet, den Planern aber trotzdem Kopfzerbrechen bereitet: In viele Häuser, die von ihren Bewohnern geräumt wurden, weil sie schwere Schäden haben, sind die Ärmsten der Armen aus den Slums im Osten des Landes, aus Diyarbakir, Adana oder Gaziantep eingezogen. Verglichen mit dem Elend dort, ist eine beschädigte Wohnung im reichen Adapazari immer noch eine gute Chance. „Der Staat“, beteuert deshalb Planungschef Fikret Bayhan, „muss Sozialwohnungen für die Armen bauen.“ Doch so viele Sozialwohnungen, das weiß natürlich auch Bayhan, kann man gar nicht bauen. Er will deshalb an alle Wohnhäuser in Adapazari-Alt, die mehr als zwei Stockwerke hoch sind, Plakate mit der Warnung anbringen lassen: „Zieht nicht in diese Särge.“
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